Tagebuch

2. Mai 2024

Neuer Wein aus Poysdorf. „Stalins Blick“ von Werner Bräunig zum zweiten Mal. Die ungarischen Anthologien neu sortiert, aus keinem Land habe ich mehr. Der erste Urlaub am Plattensee seit 1976 rückt näher. Und die Restzahlung für Zakopane ist auch getätigt. Das Geld verlässt das Konto in atemberaubendem Tempo, kaum ist es eingetrudelt. Vor 25 Jahren schrieb ich am 2. Mai die erste monatliche Arbeitszeitabrechnung nach meiner langen Infarkt-Pause: 29 Überstunden in knapp drei Arbeitswochen. Besuch des Chefredakteurs angekündigt für den nächsten Tag, es sollen angeblich Entscheidungen fallen für die neue Redaktion in Arnstadt. Fünf Jahre später bin ich schon wieder weg aus Arnstadt und schiebe Sonntagsdienst, kann zum Mittagsessen nach Hause fahren, dann zurück in die Redaktion. Fünf Jahre später ist abermals Sonntag, aber ohne Dienst und doch bezahlt. 1300 Jahre Arnstadt in Arnstadt mit Festumzug. Essen im Südtiroler Festzelt in der Ritterstraße.

1. Mai 2024

Den Zusammenhang zwischen Klassenkampf und Blasmusik werde ich bis an mein hoffentlich noch nicht allzu nahes Ende nicht begreifen. Ich begreife, dass alle mehr Geld für weniger Arbeit wollen. Von mehr Geld für Arbeitende profitiere ich als Rentner alljährlich auch. Dass immer mehr Nichtarbeitende profitieren, finde ich nur teilweise lustig: eben sehe ich im Fernsehen einen Bürger, der allein für seine unfassbar zahlreichen Kinder dem Rechtsstaat jährlich anderthalb Millionen Euro legal aus der Tasche zieht, er kam aus einem extrem sicheren Herkunftsland in ein extrem blödes Geldverteilungsland. Und dann starb gestern Paul Auster. Unvergessen, wie Sigrid Löffler im „Literarischen Quartett“ den Wiener Mund rundete, um den Namen hyperkorrekt auszusprechen. Man kann es mit Lautumschrift andeuten, man kann auch an Jean-Paul Belmondo denken, dessen Paul wie Paul und Auster gesprochen wird. Von Auster besitze ich 21 Bücher. Alle von Rowohlt.

30. April 2024

Vollzug, Vollzug. Mit leicht angefeuchtetem Auge lauschten wir der Rede der Standesbeamtin. Im Trauzimmer waren wir zuletzt vor 30 Jahren. Ich als Fotograf. Wir seinerzeit in Lichtenberg hatten noch sehr viel Sozialismus, auch vor der Tür, nicht nur in den salbungsvollen Worten. Es hat gehalten. Was mit dem Sozialismus nicht ganz funktionierte. Weswegen der morgige Kampf- und Feiertag auch nur noch Tag der Arbeit heißt. An unseren Masten hängen jetzt bereits sehr viele Kandidaten: die am höchsten, bei denen die Befürchtung heruntergerissen zu werden am größten ist. Während ich vor 20 Jahren noch zum Auszugdrucker eilte, um zu sehen, ob die Kohle auf dem Konto ist, weiß ich heute, dass die Rente kommt wie das Amen in der Parteigruppenversammlung. Das Paar befindet sich im Harz, während sich uns bestens bekannte Menschen und Menschinnen in Indonesien kleine blaue Eier verspeisen. Bei uns gibt es heute nur noch einen süßen Kuchenrest.

29. April 2024

Albert Emil Brachvogel, lese ich in der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), rettete durch seine Geburt seine Mutter vor einer für unheilbar gehaltenen Geisteskrankheit. Mein „Lexikon Berliner Grabstätten“ verzeichnet sein Grab als Ehrengrab auf dem Dom-Friedhof II in Berlin-Mitte, Abteilung 1-7-1, G3. Dort war ich nie, las auch nie eine Zeile von ihm. Wohl aber sehe ich sein Buch „Friedemann Bach“ lebhaft vor mir in einer besonderen Regalreihe bei meinen Eltern, der Lieblingsreihe meiner Mutter, unweit von Alfred Amenda mit seinem „Appassionata. Ein Lebensroman Beethovens“. Dass Alfred Amenda eigentlich Alfred Karrasch war, der schon am 1. Mai 1932 der NSDAP beitrat, weiß ich erst heute. Brachvogel ist am 29. April 1824 geboren. Neben der Rentenzahlung morgen ein weiteres Großereignis: ich werde zum zweiten Male Schwiegervater. Dergleichen kommt vor, nur Mütter müssen bis November warten, ehe sie das auch werden dürfen.

28. April 2024

Den 150. Geburtstag von Karl Kraus beginne ich mit Cannabis. Es ist einfacher, als ich je dachte, man muss auch gar keiner Erzeuger-Genossenschaft beitreten. Ich fuhr vor einem reichlichen Jahr nach Marienbad, wo ich es mir eine ganze Woche gut gehen ließ. Massagen, Elektroden an der Wade, gutes Essen, gutes Trinken und dann eben im Handel Cannabis. Ich rauche es nicht, ich kaue es nicht und besitze 260 flüssige Gramm auf einen Streich. Es ist „Relaxační sprchový gel“ von BioBione, also Duschgel. Was seine auf der Flasche nur tschechisch geschilderten Vorzüge sind, kann ich nicht sagen, vermutlich habe ich sie unter der Dusche auch einfach gleich abgespült. Cannabis enthält, das kann ich verstehen, weder Parabene noch Silikone, auch Phenoxyethanol ist keines drin. Ich schaudere beim Gedanken an solche Inhaltsstoffe und erinnere mich der Deostift-Werbung „ohne Aluminium“. Eine Probe: ich vertrug es nicht und nehme seither wieder mit Alu.

27. April 2024

Acht Jahre ist es auch schon wieder her, dass ich über Georg Britting und „Das Storchennest“ ein paar Sätze ins Netz stellte. Weil heute sein 60. Todestag ist, blätterte ich ein wenig in dem dicken Band „Frühe Werke“ aus dem Süddeutschen Verlag von 1987. Mein Lesezeichen steckt vor einem sehr kurzen Text mit dem Titel „Passau und der alte und der junge Lautensack“. Lesespuren aber zeigen vor allem die Theaterkritiken, geschrieben zu Aufführungen des Stadttheaters Regensburg. Britting kam noch nicht in die Verlegenheit, sich darüber freuen zu müssen, dass ein Regisseur die „Dreigroschenoper“ in rechtsradikales Milieu verlegt. Die „Dreigroschenoper“ war noch gar nicht geschrieben. Geschrieben ist dagegen mein „Karl Kraus 150“, morgen für alle zu lesen, die die nötige Neugier mitbringen. Es ist in „Jahrestage“ mein Beitrag Nummer 301, was mir wenigstens einen gewissen Fleiß bescheinigt. Dazu 248 „Theatergänge“, 226 „Bücher, Bücher“. In 13 Jahren.

26. April 2024

Als ich vor beinahe 50 Jahren die wunderschöne Vorlesung „Geschichte der KPdSU“ hören durfte, die einzige mit Anwesenheitskontrolle an Montagen 7 Uhr morgens, da hörte ich nicht während der Behandlung der dreißiger und vierziger Jahre vom Personenkult und den Verbrechen unter Stalin, sondern erst, als der XX. Parteitag 1956 und der XXII. Parteitag 1961 behandelt wurden. Warum kommt mir das in den Sinn, wenn ich in Nachrichten und Videotext von den Dementis aus unseren grasgrünen Lieblingsministerien höre und lese? Das, was dementiert wird, war keine Nachricht wert. Man stelle sich vor, Tagesschau und Heute würden nur die Dementis von Krah und Bystron ins Abendlicht setzen, nicht die Vorwürfe gegen sie, die sie dementieren. Man kann, weiß ich, nicht Williams Christ Birne mit Apfelkorn vergleichen. Mit der DDR ist überhaupt nichts vergleichbar, denn sie war ein Unrechtsstaat und solche haben bekanntlich keine weiteren Eigenschaften, keine.

25. April 2024

Politiker und Medien arbeiten sich, wie sie das selbst formulieren würden, an der Demontage der beiden AfD-Spitzenkandidaten für das Europaparlament ab. Sie gehen davon aus, dass es wie bei ihnen selbst funktioniert, nur tut es das nicht. AfD wird nicht gewählt, weil diese oder jener an der Spitze steht, auch nicht wegen eines Programms. Das liest niemand, nur Berufsleser, die aber nicht einmal Wahlen in einer Telefonzelle entscheiden. AfD wird gewählt, weil sie die AfD ist, was so zu verstehen ist, wie einst Baruch Spinozas „Omnis determinatio est negatio“. Es gab Zeiten nach 1990, da konnte man einen Sack Mehl für die SPD in Brandenburg, zwei Sack Mehl für die CDU in Sachsen und Thüringen aufstellen und sie siegten. Vielen ist die AfD heute der Sack Mehl. Was vorrangig das Verdienst ihrer Gegner ist: viel Feind, viel Ehr, so sagten einstens die jungen Römer, oder waren es doch die alten Babylonier? Rückwärts zu alten Taten, Werner, das Leben ist kuazz.

24. April 2024

Gestern zwei Grad minus, heute drei Grad plus, gestern zwei Wahlbenachrichtigungen für den 26. Mai. In der Mail-Post ein überaus freundlicher Gruß aus Weinfelden in der Schweiz, wo ich schon war, wenn es auch länger her ist, und wo ich gelesen werde mit Anteilnahme, was mich freut. Zwei uralte Arbeiten aus meiner Studentenzeit zeigten mir, dass ich anno 1978 und anno 1979 durchaus konkurrenzfähig war. Wer die DDR kennt und nicht nur das Gefasel der Kenner, die nie da waren, könnte das erkennen. Immerhin habe ich jetzt beide als versendbare Dokumente, nicht mehr nur als Durchschläge von selbst getippten Typoskripten einer Beleg- und einer Jahresarbeit. Dass ich nicht nur zu Günter Kunert nachwendlich in einer Bibliographie landete, sondern auch zu Christoph Hein, freut mich, man erfährt dergleichen nie zu spät. ZEIT online informierte mich, dass Juli Zeh Abiturienten verrät, was die zu ihrem Buch wissen müssen. Schön für Verlag und Konto von Juli.

23. April 2024

Auf Montag verschobene Sonntagsreden zu Immanuel Kant und seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ sind in einem kriegsgeilen Ampelland dreifach peinlich. Natürlich heißt es am Anfang des ersten Abschnitts „Es soll kein Friedensschluss für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht wird.“ Das passt vielen in ihren üblichen Jammerkram. Schon auf der nächsten Seite aber steht bei Kant: „Es sollen keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.“ Das passt gar nicht in einem Ampelland, das Staatsschulden Sondervermögen nennt und Weichspüler in die Schuldenbremsensoße gießen will. Schützt Kant vor asexuellem Missbrauch durch ahnungslose Redenschreiber! Rückwärts zu neuen Steilufern! Nachhaltigkeits-Apostel in die Produktion! Selbst die doofe DDR wusste, dass man Geld erst verdienen muss, ehe man es ausgibt. Sie hielt sich nur nicht dran: Mit bekanntem Ende.

22. April 2024

Schatten wirft er nun keine mehr voraus, der 300. Geburtstag von Immanuel Kant ist da. Mit meiner inzwischen 61. Arbeit zu Arthur Eloesser bin auch ich ihm ein wenig näher gekommen. Vermuten will ich, dass neben allen Verdiensten, die er sich in Königsberg und der Welt erwarb, auch große Schadwirkung von ihm ausgeht bis heute. Er ist der Vater des Gedankens, dass guter Wille alles, gute Wirkung nichts oder nebensächlich ist. Er ist der Vater des Gedankens, dass guter Wille dem Wollenden wichtig ist, nicht dem Wirkenden. Alles blinde Gutmenschentum, alle Zeichensetzerei ohne Sinn und Verstand, außer dem Sinn des Selbstgenusses, gehen auf ihn zurück. Es ist auf ihn eine Rechtfertigungsethik für fast alles zu bauen. Ihn zu stützen im Gegensatz zum Utilitarismus, der allein wegen seines Platt-Materialismus als Popanz bestens brauchbar wurde, scheint leicht. Im wirklichen Leben testete ich heute mein erstes estnisches Duschgel, es wird wohl das letzte bleiben.

21. April 2024

Im September ist es schon wieder zehn Jahre her, dass ich Racines „Phädra“ im Meininger Theater sah. Ich will nicht behaupten, dass es mir frisch im Gedächtnis haftet, aber ich könnte nachlesen, was ich schrieb. Meine Datei zu „Andromache“ ist vollständiger als die zu „Phädra“, was nicht einmal mich beunruhigt, andere haben ganze Symphonien unvollendet gelassen, wieder andere das Fragment zur Kunstform erklärt. Von beiden bin ich meilenweit entfernt und frage mich sofort, wieso ich von Meilen rede, wo doch sonst der Kilometer mein Urmeter ist. Man schwätzt halt vor sich hin. Da Jean Baptiste Racine am 21. April 1699 starb, steht er in Reclams Literatur-Kalender 2024, in dem mancher und manche fehlt, die ich hineingesetzt hätte, wenn ich ein Kalendermacher wäre. Lieber aber wäre ich ein Wettermacher, dann würde ich den Aprilschnee vom Kickelhahn pusten. Meine AOK-App meldet mir am Morgen das Erreichen des Monatszieles. Jippie, heißt das.


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