Tagebuch

29. Dezember 2023

Nachtrag: Gestern trank ich den ersten lettischen Wein meines Lebens, eine Rebsorte, von der ich noch nie gehört hatte: S675 Seyval Blanc. Unsere Suchmaschine bekam Arbeit und am Ende waren wir kaum schlauer als vorher, denn auch die Sorten, aus denen er gekreuzt wurde, sagten uns nichts bis gar nichts. Wegen Thermentag heute fast gar keine Schritte, ich lasse die Uhr im Spind bei den Sachen. Ich brauche einen kurzen Moment, um mich wieder zu orientieren, dann bin ich im Bilde. Während des Schlangestehens auf der Treppe gibt uns ein junges Paar mit zwei Kindern den Tipp, in den Gasthof Rotes Roß in Zell im Fichtelgebirge zu gehen am Abend. Wir ergattern vier Plätze und essen sehr gut, wenn wir auch sehr lange warten müssen. Der freundliche Wirt, den wir von unserem Tippgeber grüßen sollen, identifiziert diesen nach einer Weile des Grübelns. Im Marcuse schaffte ich vier kurze Texte, das Abendessen für Morgen im „Deutschen Haus“ ist auch gesichert.

28. Dezember 2023

Nachtrag: Nachdem unser Berliner Besuch gestern gen Berlin mit zwei Zwischenübernachtungen abgereist ist am frühen Nachmittag, können wir heute durchatmen, ehe wir unsererseits nach Weißenstadt fahren. Theaterkritiken habe ich so viele vorab gelesen, dass ich bis Montag aussetzen kann, deshalb nehme ich Ludwig Marcuse mit. „Wie alt kann Aktuelles sein?“ fragt das Buch und ich lese seit 2006 darin immer mal wieder einen Text, zu Joseph Roth am Anfang, später zu Heine. In Weißenstadt soll es meine Morgenlektüre sein, ehe der Tisch in der Küche gedeckt wird, denn ich stehe immer zuerst auf und gehe zuerst ins Bad. Vor zwanzig Jahren in Pertisau wurde es der Urlaub der Knoblauchcreme-Suppen, von denen wir jeden Abend eine andere nahmen in einem anderen Restaurant, bis wir von vorn anfangen mussten. Heute auf der Anreise ein Halt am Getränkemarkt Gefrees, ein paar fränkische Biere für den Durst, wir kommen knapp als erste an in der Bergstraße.

27. Dezember 2023

Nachtrag: Ganz früher war der 27. Dezember der Tag des Balls der ehemaligen Goetheschüler in Ilmenau, meist Treffen der alten und der ganz alten Abiturienten, vermischt mit denen, die gerade erst der Herderstraße entronnen waren, zu meiner Zeit auch denen, die von der Armee zurück waren und nun Heerschau halten wollten, wer noch zur Stange hielt. In Rudolstadt oder wo auch immer wird heute Steffen Mensching 65 Jahre alt, den ich schätze. Er mich wohl weniger, weil ich nicht immer toll fand, was an seinem Theater gezeigt wurde und weil ich dem inzwischen verstorbenen Vorsitzenden des Fördervereins bisweilen einen Interessenkonflikt vorwarf. Mensching scheint ihm treu geblieben zu sein, mich sah der Nicht-Genosse Vorsitzende im Alter als seinen Feind. Vor 20 Jahren brachen wir die Regel, nie am 27. Dezember den Silvesterurlaub anzutreten und fuhren nach Pertisau am Achensee, in der Erinnerung 30 Millionen Deutsche in beiden Richtungen Autobahn.

26. Dezember 2023

Nachtrag: Vor 90 Jahren starb Anatoli Lunatscharski, von dem ich sieben Bücher nicht nur besitze, sondern auch häufig benutze. Allein drei davon sind Fundus-Bücher, die Reihe war mir so lange Sammelobjekt, bis ich sie tatsächlich vollständig besaß. Auf Nachwende-Teile verzichte ich bis heute mit zwei Ausnahmen: August Strindberg „Verwirrte Sinneseindrücke“ und Albert Dresdner „Die Entstehung der Kunstkritik“. Lunatscharski erlebte seinen 58. Geburtstag und war ein sehr kluger Kopf. Sein Urnengrab an der Kremlmauer sah ich 1987. Da diente unser aller Putin noch in Dresden, wohnte Radeberger Straße in einem Plattenbau. Ob der VEB Verlag der Kunst Dresden, später ohne VEB, je in sein Blickfeld geriet, wissen wir nicht. Für die Präsenz des ehemaligen Volkskommissars für Bildung, den Stalin 1929 vorzeitig in den Ruhestand versetzte, ein wichtiger Verlag. Zu seinem 50. Geburtstag 1925 brachte die Berliner Volksbühne eine Uraufführung für ihn.

25. Dezember 2023

Nachtrag: Nach dem Großen Essen im kleinen Esszimmer mit acht Essensteilnehmern zu zwei Kaninchen und etlichen Rouladen mit Klößen, Rotkraut, Bohnen wahlweise ein großer Spaziergang bis zur anderen Seite Ilmenaus, was mir mehr als 11.000 Schritte und den zweifelhaften Genuss der Belastbarkeitsgrenze einträgt. Das linke Bein ist ein zu Sektierertum neigendes Körperteil, sein Hang zu Spontaneität befällt vor allem die Sehnen unterhalb und oberhalb des Knies, aber das ist eben bei den Linken so, während das rechte Bein konservativ ausschreitet, ohne ständige gesonderte Daseinsbeweise abzuliefern. Unsere Enkel schlafen bei uns, unsere Kinder schlafen im Hotel oder bei sich zu Hause. Unser frei geräumter Parkplatz wird nicht benötigt, wir lassen ihn dennoch frei. Unsere Enkel erlernen bei ihrem Onkel, dass man Rommé auch mit „Klopfen“ spielen kann, was dazu führt, dass auch mit Oma und Opa geklopft wird. Wir haben zwei schnell lernende Enkel.

24. Dezember 2023

Nachtrag: Was liest man am Heiligabend, bevor die Besucher aus Berlin einreiten? Nicht Adam Mickiewicz, obwohl sich dessen Geburtstag zum 225. Male jährt und im Regal mit meinen Polen ein Poesiealbum Nummer 109 und ein Reclam-Band „Lyrik. Prosa“ stehen, darin die Lyrik sogar zweisprachig. Und natürlich auch nicht Helga M. Novak, die vor zehn Jahren starb und mir von allen, die gen Westen gingen aus der kleinen DDR, bis heute die unbekannteste ist. Alles geht nicht, alles muss auch nicht. Also: ich lese Max Mell, ich lese Armin Eichholz, ich schreibe emsig an meinen Dateien zu Wassermann. Der kleine Weihnachtsbaum steht schon so lange wie lange nicht, die Weihnachtsdekoration ist allgegenwärtig. Unser Teil der Geschenke wartet in einem großen roten Sack, ein Zweitsack wird sicher hinzutreten. Unser Parkplatz ist geräumt, die Papierkiste für das anfallende Geschenkpapier geleert. Die alkoholischen Getränke kühlen auf dem nassen Balkon.

23. Dezember 2023

Nachtrag: Seltsam, wir treffen beim Unterpörlitzer Weihnachtsmarkt mehr Menschen, die wir kennen oder die uns kennen, als beim Ilmenauer Weihnachtsmarkt, der in diesem Jahr, wie wir auch allen sagten, die uns nicht danach gefragt hatten, nicht annähernd so schlecht war wie seit Urzeiten immer behauptet. Es scheint ein geistiges Ritual für Ilmenauer, den Ilmenauer Weihnachtsmarkt schlecht zu finden, den in Langewiesen dagegen immer unverschämt gut. Seit Langewiesen Ilmenau ist, ist der dortige ja eigentlich auch ein Ilmenauer Weihnachtsmarkt, aber so weit treiben wir die Integration der Ortsteile dann doch wieder nicht. Es sind erstaunlich viele Menschen in Unterpörlitz, alle essen und trinken und schwatzen, das Wetter könnte widerlicher kaum sein, doch Würste, Grillbrote und Glühwein schmecken. Nach 12 Tagen mit 10.000 Schritten in Folge wird dies der erste wieder darunter, doch das Monatssoll ist geschafft, die AOK-Knete wieder verdient.

22. Dezember 2023

Nachtrag: Heute wäre mein alter Freund Frank 71 Jahre alt geworden, ist aber nun auch schon wieder seit fast fünf Jahren tot. Viele Geburtstagsfeiern bei ihm habe ich lebhaft vor Augen, ich erinnere mich der Zimmer, in denen wir saßen, habe sogar noch die Stimme seines Vaters im Ohr, seine Mutter Waltraud überraschte ihn, als es schon in Richtung unserer Jugendweihe ging, mit der Nachricht, noch einmal schwanger zu sein. Es wurde der dritte Bruder. Der gruseligste wurde sein 51. Geburtstag, an dem Tag starb Vater Heinz. Wir saßen völlig gelähmt im einstigen Schlafzimmer der Eltern, das jetzt ein Partyraum geworden war. Vater Heinz plauderte gern aus dem Nähkästchen der sozialistischen Produktion, die nie so lief wie in den Zeitungen und in der „Aktuellen Kamera“. Seinen gigantomanischsten Geburtstag feierte Frank 1992 als junger Bauunternehmer, nur Lenin und der Papst waren nicht eingeladen, wir kamen uns vor wie Zaungäste aus völlig fremden Welten.

21. Dezember 2023

Nachtrag: Als Lion Feuchtwanger am 21. Dezember 1958 in Los Angeles starb, war seine weltweite Lesergemeinde riesig, seine deutschsprachige Neidergemeinde immer noch groß. Ich bin mit ihm großgeworden: im Bücherschrank meiner Eltern immer gut sichtbar: „Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis“ und „Die hässliche Herzogin“, „Jefta und seine Tochter“, „Die Jüdin von Toledo“ und „Die Füchse im Weinberg“. Ergab sich die Gelegenheit, schenkte ich meinen Eltern Feuchtwanger zu Geburtstagen oder zu Weihnachten: „Die Josephus-Trilogie“ in drei Bänden, „Jud Süß“, „Die Brüder Lautensack“. Mir selbst behielt ich die Dramen vor, den Briefwechsel mit Arnold Zweig, „Moskau 1937“, „Der Teufel in Frankreich“, „Der falsche Nero“, die Tagebücher und als letzte Neuanschaffungen vor noch ganz nicht langer Zeit: „Briefwechsel mit Freunden“ und „Centum Opuscula“ aus dem Rudolstädter Greifenverlag. Dort las ich eben erst Kritiken zu Wassermann.

20. Dezember 2023

Nachtrag: Zwar starben beide am 20. Dezember 1968, nur der eine mit 84, der andere mit nur 66 Jahren. Der eine in Tel Aviv, obwohl er ein Prager war, freilich auch ein deutscher Jude, der andere in New York City, obwohl er ein Kaliformier war aus Salinas. Der jüngere bekam den Nobelpreis, der ältere rettete Kafkas Nachlass und verhalf damit Heerscharen zu akademischen Titeln, zu stolzen Buchpublikationen, vor allem aber sehr vielen Nur-Lesern zu Lektüre-Erlebnissen der nun wirklich besonderen Art. An den jüngeren denke ich einmal im Jahr völlig unvermeidlich, denn sein Geburtstag ist auch mein Geburtstag, beim anderen schlage ich öfter nach: in „Streitbares Leben“, seiner Autobiographie, und in „Der Prager Kreis“ mit Nachwort von Peter Demetz. Max Brod und John Steinbeck also. Von letzterem besitze ich so ziemlich alles, von Brod nur noch den Roman „Der Meister“ und „Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas“ aus dem fernen Jahr 1959.

19. Dezember 2023

Nachtrag: Armin Eichholz, ich gebe es zu, ging mir, als ich zuerst gelegentlich in seinen beiden Kritikensammlungen las, die er im Untertitel „Münchner Theatertagebuch“ nannte, eher auf die Nerven. Seit gestern lese ich ihn systematisch und da kommt er schon ganz anders daher, ein wenig manieristisch bisweilen, aber wer mit Ehrgeiz ist nicht ein wenig manieristisch. Eichholz starb 2007 im Weihnachtsurlaub, was man niemandem wünscht. Ob freilich ein Ostertod deutlich angenehmer ausfällt, wage ich zu bezweifeln. Immerhin ist er 93 Jahre alt geworden, für Kritiker, die nicht zeitig erschlagen wurden, ein stolzes Alter. Von Goethe, wem sonst, stammt „Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.“ Die größten Feinde der Elche waren früher selber welche, wir erinnern an die „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“, in denen der schnöseljunge Johann Wolfgang über alles herfiel, was sich nicht gleich wehren konnte, denn er schrieb anonym, wie es damals verbreitete Mode war.

18. Dezember 2023

Nachtrag: „Hockenjos“ kannte ich schon, bevor ich den Einakter heute als fünften und letzten der Wassermann-Einakter las. Aus Kritiken und Wassermann-Darstellungen. Auch die alte Marotte des Autors, seltsam bis kurios sprechende Namen für sein Personal zu erfinden: Nothafft oder auch Wahnschaffe heißen sie in der Prosa, hier muss ein Bildhauer mit dem Namen Mettenschleicher leben, also: auf der Bühne leben. Das aber bleibt ihm seit langem erspart, denn niemand spielt mehr einen Wassermann, Einakter sind generell aus der Mode gekommen, dafür werden Romane oder gar erfolgreiche Filme auf die Bühnen gezerrt. „Neun Zehntel unserer Berühmtheiten verdanken ihren Glanz dem Notizenmangel einer Zeitung oder dem Hang nach Redensarten, der in den Leuten von der Feder steckt.“ Sagt just dieser Mettenschleicher im Text und ist damit wohl noch immer nicht ganz aus der Aktualität gefallen. Der Journalist des Stückes heißt Bienemann, nicht etwa Drohne.


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