Tagebuch

24. April 2018

Alfred Polgar gehört zu jenen, die meinen Privat-Olymp so weit oben besiedeln, dass ich nur mit Fernrohr nach ihnen schauen kann. Er starb am 24. April 1955. Am 4. April 1926 druckte „Der Tag“ sein „Ich kann keine Romane lesen“. Dort heißt es: „Eigentlich wollte ich sagen, dass der Mensch, obwohl er oft, ich zum Beispiel, wirklich gar nichts dafür kann, erschütternd viele Menschen kennt. Indem du lebst, setzt sich Bekanntschaft an wie Zahnstein …“. Romanlektüre ist ihm deshalb: „Das heißt Wasser ins Meer tragen, Sand in die Wüste, Tradition ins Burgtheater“. Grammatiken las er lieber: „Bin ich hinten, bei der Veränderlichkeit des participium passivum der rückbezüglichen Zeitwörter angekommen, habe ich das Kapitel vom Konjunktiv in Relativsätzen längst vergessen. Ich kann jedes Kapitel immer wieder lesen, bin immer wieder überrascht von den Neuigkeiten, die es mir mitzuteilen hat. Versuchen Sie das mit dem Zauberberg.“ Das nennt man dreiste Behauptung.

23. April 2018

Einen unfreiwilligen Hausarrest habe ich mir für heute verordnet, der sogar den Gang zum Briefkasten ausschließt. Zum Glück sind Briefkästen an Montagen in Zeiten modernen Postvollzugs vor allem der Luft vom Wochenende vorbehalten, sonst könnte es mich grätzen, innen Postgut zu sehen, ohne an es heranzukommen, denn: meine Haustür, Haus- und Briefkastenschlüssel befinden sich auf  Kurz-Dienstreise in der Kreishauptstadt, respektive in der Mittelkonsole des motorisierten, vierrädrigen und fünftürigen Familienfahrzeugs japanischer Produktion, mit dem wir gestern das nahe Weimar besuchten. Wir wanderten vom Goethe- und Schiller-Archiv bis Tiefurt und zurück, schlürften unterwegs herrlich duftende Frühlingsluft, Ausnahme ein sehr kurzes Stück am Klärwerk Weimar vorbei, wo dann doch die Kacke leise dampfte. 100 Jahre alt wäre heute Maurice Druon, den wir wegen Corona Schröter und Friedrich Hildebrand von Einsiedel schnöde vernachlässigen.

22. April 2018

Wie schmeckt Bratwurst ohne Fleisch, fragt die Sonntagszeitung heute. Den Test habe ich nicht gemacht, vermute aber, sie schmeckt etwa wie Rührei ohne Ei, oder wie Sinti-und-Roma-Schnitzel ohne Schnitzel. Traditionelle, herkömmliche, also nicht Maxim-Gorki-Theater-taugliche Brätel und Bratwürste sind in eingeschweißtem Zustand an meiner Tankstelle erhältlich, die Brätel mariniert, müssen also nur noch auf den Rost gelegt werden. Einen Rost stellt man am besten unter einer Reihe geöffneter Schlafzimmerfenster auf, das verbessert die Schlummerluft entscheidend und zwingt nur unter Umständen zu sehr langen Lüftungen. Das schreibende Unterhosen-Model Frank Schätzing hat wieder einen Thriller veröffentlicht, während Nordkorea einfach keine Atomwaffen mehr testen will, denn der Nachteil einer getesteten Atomwaffe ist der, dass sie anschließend nicht mehr zur Verfügung steht. Wir reisen jetzt in die Kulturstadt Weimar, eine atomwaffenfreie Zone.

21. April 2018

„Flucht – Exil – Migration“ ist die Jahrestagung der Shakespeare-Gesellschaft in diesem Jahr überschrieben, denn Flüchtige, Exilanten und Migranten gibt es beim ollen Willy ja auch. Als ich unlängst verschiedentlich versuchte, das Weimarer Büro der Gesellschaft telefonisch zu erreichen, war dessen Besetzung vermutlich auch eben auf der Flucht: vor Anrufern. Immerhin erfuhr ich, man könne auch ein Fax senden oder eine E-Mail. Bei Google erfuhr ich, was Faxe früher waren, eine E-Mail, mir vertrauter, sandte ich hin, eine Antwort kam nicht. Shakespeare hätte vermutlich ebenfalls nicht auf solche Post reagiert, insofern bleibt mein altes Weltbild intakt. Auf der Suche nach einigen brauchbaren Informationen zu einer Porträt-Zeichnung von Goethes Hand stieß ich auf eine Domain namens Weimarpedia, die ich bisher, tut mir leid, nicht kannte. Als ich las, was die Schülerin (Name der Redaktion bekannt) zu dieser gesuchten Zeichnung geschrieben hatte, tat es mir nicht mehr leid.

20. April 2018

Gewöhnlich verfällt eine Wochenzeitung bei mir, wenn ihre Nachfolgerin erscheint, der Schere und dem Papiercontainer. Der Vorgang vollzieht sich schrittweise, es ist eine Tätigkeit für müde oder späte Tagesphasen. Dann stoße ich beim Schneiden auf einzelne Stellen im Druck, die mich von gedankenloser Weiterarbeit abhalten. Was bedeutet die Aussage: „Alexander Schimmelbusch hat mit „Hochdeutschland“ den Roman der Stunde geschrieben“? Heißt es, wenn ich das gegen Acht lese, dass ich ihn bei Neun schon vergessen darf? Werden Romane deshalb geschrieben, um nach einer Stunde erfolgreich dem Vergessen anheim zu fallen? Natürlich meint der Kritiker, der solche Blödsinnszeilen verantwortet, nicht, was er sagt. Natürlich ist der Redakteur, der den Blödsinn durchgehen lässt, nicht etwa blind. Es ist einfach geschäftstüchtiges Unterbewusstsein, das der nächsten Verlagsanzeige zitierfähige Kernaussagen liefert, die gar keine sind, aber so tun, als ob.

19. April 2018

Der Fahrer eines schwarzen Audi mit Hildburghauser Kennzeichen verdient unter den bisherigen Falschparkern auf unserem Platz ein spezielles Bienchen. Er wartete am Steuer, bis ein kleinerer, schwarzhaariger Mann mit Kind aus dem Kindergarten kam, ließ beide einsteigen, schoss dann vom Bürgersteig aus ein Erinnerungsfoto, für das er eigens in die Knie ging, stieg ein und fuhr zwei Minuten nach 16 Uhr ab. Ich hätte es gar nicht bemerkt, hätte ich nicht auf eine Lieferung warten müssen, die telefonisch angekündigt war und sich verspätete. Inzwischen gehen gute Ratschläge ein, was zu tun wäre, Fotos mit Beispiellösungen. Fast nebenbei griff ich nach 50 Jahren wieder zum guten alten „Egmont“, ich las ihn 1968 als Goetheschüler passgerecht, habe aber nicht die geringsten Erinnerungen mehr, welch heroische Botschaft wir den fünf Akten einst entnehmen sollten und ob wir sogar einen Aufsatz darüber schrieben. Irgendwo lagern meine alten Aufsätze.

18. April 2018

Vermutlich bekommt man am Bodensee (Kennzeichen FN) Führerscheine auch ohne Nachweis von Lesekompetenz. Auf alle Fälle gehört das Wort Mietparkplatz dort zu den unbekannten, anders wäre nicht zu erklären, dass FN QO (Endziffer ist der Redaktion bekannt) mit gewisser Hartnäckigkeit unseren Parkplatz missbräuchlich benutzt, gefolgt von einer 464 aus heimischen Gefilden. Es hilft nicht, wenn man sich im Kindergarten beschwert, auch nicht, wenn man sich an dessen auswärtiges Trägerwerk wendet, die Genossenschaft zuckt mit den Schultern, das Ordnungsamt desgleichen, das hat seine Jagdreviere innerstädtisch, die Polizei ist nicht zuständig. Die verrät dafür auf Nachfrage Halter-Namen. Zur Überraschung der Betroffenen, falls man die Sache aus Spaß weiter verfolgt. Man müsste einen Vogelschwarm engagieren, der zwischen 7 und 9 und zwischen 15 und 16 Uhr die Falschparker daumenhoch zuscheißt. Leider haben Vögel einen eher ungeregelten Stuhlgang.

17. April 2018

Ausflug in Goethe-Gefilde. Die halbwegs verblüffende Feststellung, dass Ernst Beutler auf seinen knapp 50 Seiten über Corona Schröter weniger Substanz bietet als Fritz Kühnlenz auf seinen elf Seiten. Man kann ohnehin nicht wenige der zahlreichen Goethe-Texte von Beutler ohne schlechtes Gewissen „Phantasiestücke in Beutlers Manier“ nennen, was im Kern durchaus als Lob  zu sehen wäre. Denn der langjährige Chef des Freien Frankfurter Hochstiftes verstand es wie kaum einer, die weißen Flecken bei und rund um Goethe mit Farbe und Stoff zu füllen, wo harte und belastbare Fakten nicht zuletzt wegen der fast lebenslangen Vernichtungswut Goethes selbst schlicht fehlen. Der Name Ilmenau taucht in Beutlers „Corona Schröter“ nur ein einziges Mal auf, da hat er schon vierzig lange Seiten gefüllt. Den ersten Schröter-Biographen Robert Keil nahm er offenbar nicht zur Kenntnis, den Namen von Wilhelmine Probst, Coronas treuer Lebensgefährtin, kennt er auch nicht.

16. April 2018

Schlechte Nachrichten für Stichwahlfreunde: sie müssen ihre Wahlbenachrichtigung wegwerfen. Ich hätte an der Stichwahl ohnehin nicht teilnehmen können wegen eines Aufenthaltes im befreundeten deutschsprachigen Ausland. In manchen Gegenden lag die Wahlbeteiligung unter 40 Prozent, die rauschenden Sieger/innen werden davon keine Notiz nehmen: Mund abputzen hieß das früher fürs Phrasenschwein und dann sieben Jahre ran an den Speck. Wann wir den neuen Oberbürgermeister wählen werden, wissen wir noch immer nicht, wir wissen auch nicht, wer es denn werden möchte, das ist eine prima Ausgangssituation. Wäre ich ein Däne, wurde ich heute zum Geburtstag meiner Königin die Fahne schwenken. Als sie auf den Thron kletterte, beschützte ich die DDR gerade vor ihren Feinden, diese nette Zeit habe ich in „Kulturschock NVA“ geschildert, was gar nicht stimmt, denn „Kulturschock NVA“ schildert nichts, das Buch versammelt nur meine authentischen Briefe.

15. April 2018

Gäbe es mehr Gastspiele der allerersten Häuser in den, nun ja, anderen Häusern, dann könnte man in den anderen Häusern als Zuschauer den Eindruck gewinnen, dass draußen in der Welt bisweilen so gutes Theater gespielt wird, dass die Heimmannschaft, nun ja, in ein realistisches Licht getaucht erscheint. Wir sind wieder zu Hause und haben ein Gastspiel des Residenztheaters München hinter uns. Sagen wir es vorsichtig: Es gibt Schauspieler und es gibt Schauspieler. Manche können mehr, manche können weniger, manche machen einen fast sprachlos. Das geht, fragt man sich im Parkett, so kann man spielen, so können vier auf einmal auf einer kargen Bühne spielen? Ja, sie können. Sie können es. Es ist ein Mehrfachvergnügen, ihnen zuzuschauen. Ja. Dann hier die Landratswahl, wir haben unsere Stimmen abgegeben. Wenn es zur Stichwahl kommt, schlagen wir ein zweites Mal zu. Für Robert Walser haben wir heute keine Zeit, es ist auch nur sein 140. Geburtstag. Aber immerhin.

14. April 2018

Sie haben es getan in so genannter Westmächte-Einigkeit. Gezielte Angriffe auf die Chemie-Waffen des Diktators Assad, der 2011 längst zurückgetreten wäre, wenn der Westen das damals akzeptiert hätte, nur spricht heute niemand mehr gern davon. Ebenso ungern jedenfalls wie von Chemiewaffen des Diktators Saddam. Wir wissen immer, wo die sind und dann, wenn wir dort sind, waren sie gar nicht da, nicht einmal die irakische Armee fanden wir mehr, die war einfach weg. Es gibt lebende ehemalige US-Außenminister, die sich ihres Stusses öffentlich schämen, den sie einst vor der UNO schwafelten. Aber wir lernen aus solchen Fällen natürlich nichts, warum auch? Wer wie ich öfter in Brüssel war, im politischen wie im militärischen Hauptquartier, der weiß, welch ein Segen die neue Konfrontation mit Moskau ist: man kann uralte Planspiele aus den Schubladen zerren, muss nicht lange erst noch kreativ werden gegen Neu-Feinde. Wir reisen rasch weg, sind morgen wieder da.

13. April 2018

Katharina von Medici hat heute ihren 499. Geburtstag. Unter Hugenotten gilt sie, wie man modisch sagen müsste, als umstritten. In einigen asiatischen Staaten begeht man das Wasserfest, bei dem sich die Leute gegenseitig mit Schläuchen und Wasserpistolen bespritzen. Fritz Teufel benutzte am 19. Februar 1982 in einer Talk-Show eine Wasserpistole, um den Bundesfinanzminister Hans Matthöfer (SPD) zu bespritzen. Manche YouTube-Kommentatoren glauben, dem im Netz stehenden Filmchen ablesen zu dürfen, dass die Bundesrepublik früher interessanter war. Und das, obwohl wir wissen, dass Nena damals ihr Achselhaar noch nicht rasierte. Was geschah sonst an 13. Aprilen: Mohammed fuhr zum Himmel, Günter Grass starb, Rudi Völler wurde geboren, um die wichtigsten Ereignisse in umgekehrter Reihenfolge genannt zu haben. Also die für uns Urdeutschen wichtigsten. Ich denke ganz privat an Edeltraud G., die 65 würde als fast letzte aus unserer 1959er Klasse, lebte sie noch.


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