Tagebuch

12. Juli 2018

England ist raus: eine Fortsetzung des Hundertjährigen Krieges mit anderen Mitteln wird es am Sonntag in Moskau nicht geben. Ob die kroatische Staatspräsidentin wieder in der Kabine mit ihren Helden hüpfte, ist nicht bis zu mir gedrungen. Unsere Kanzlerin muss auf alle Fälle nicht hüpfen, weder in einer Kabine noch irgendwo. In einem Märchenstück, das ich gerade zu nützlichem Zweck las, sagt die 13-jährige Besitzerin eines vermeintlichen Zauberringes: „Ich kauf mir jetzt ’n Sportauto, lad es mit Bonbons voll und fahr, wohin ich will. Und lutsch Bonbons. Bis nach Moskau fahr ich. Und guck beim Fußball zu.“ Dummerweise erschien das Stück schon 1947. Der damalige Diktator Stalin war nicht auf die Idee gekommen, sich eine Weltmeisterschaft ins Land zu holen, damit die Weltpresse etwas zu maulen hatte über Sport und Politik. Heute ist nebenbei auch noch  150. Geburtstag von Stefan George. Ich konnte mit ihm nie etwas anfangen, also heute auch nicht.

11. Juli 2018

Harold Bloom, fleißiger Amerikaner, der das wunderbare Buch „Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen“ geschrieben hat, wird heute 88 Jahre alt. Für mein von der Kritik in Meiningen und Umgebung vollkommen unauffällig gefeiertes Shakespeare-Buch „Wie es mir gefällt“ übernahm ich seinen Chronologie-Vorschlag der Abfolge der Stücke. Vor 104 Jahren starb in Berlin Julius Rodenberg, mit dem Fontane in einem regen Briefwechsel stand, kurz nach seinem 83. Geburtstag. Rodenberg steht in meinem Regal zwischen Wilhelm Raabe und Carl Justi, was wenig zu bedeuten hat. Hans-Heinrich Reuter, Fontane-Biograph und Herausgeber der „Briefe an Julius Rodenberg“ hat immerhin rund vierzig Seiten Einleitung dazu verfasst, das Nachwort zu Rodenbergs „Bilder aus dem Berliner Leben“ stammt von Heinz Knobloch, dem Großmeister des DDR-Feuilletons und Groß-Berlinologen. Ob ich heute für England bin oder für Kroatien, entscheide ich nach dem Spiel.

10. Juli 2018

Mir fehlte von den alten Goethe-Almanachen aus DDR-Zeiten nur der eine von 1969, die beiden Jahrgänge davor und danach besaß ich seit langen, nutzte sie gelegentlich. Jetzt ist das Fehlstück in der Post und beim Blättern entdecke ich einen Zettel aus dem Jahr 1975 zwischen den Seiten 180 und 181. Gedruckt sind dort Lebensregeln von Christoph Wilhelm Hufeland. Auf dem Zettel steht: „Hat Mamachen gelesen, als sie Sept. 1975 zum letztenmal in Berlin bei uns war.“ Darunter in etwas anderer Schrift: „2. Juli 1976 Mamachen zum letztenmal im Garten!“ Es ist gar nicht wichtig, wer Mamachen war. Die Lebensregeln nennen sich im Untertitel „Eine Makrobiotik in Merkversen“ und die Makrobiotik ist dankenswerter Weise gleich erklärt mit: = Kunst, das Leben zu verlängern. Ich zitiere: „Mit Milch fängst du dein Leben an, / Mit Wein kannst du es wohl beschließen, / Doch fängst du mit dem Ende an, / So wird das Ende dich verdrießen.“ Sage einer was gegen Hufeland.

9. Juli 2018

Die gestrige Mameladenproduktion ist im Keller verstaut, langsam füllen sich Regal und Eisschrank wieder, die Restbestände von 2017 werden immer überschaubarer. Mitten in einem russischen Märchenstück entdecke ich eine Stelle, die vollkommen unbedeutend ist, mir aber ein Detail aus der Armeezeit ins Gedächtnis ruft: das Nähzeug im Käppi-Futter. Tatsächlich, wir hatten so etwas „am Mann“, wie das hieß. Es gab Pflicht-Dinge, die man „am Mann“ zu haben hatte, aber ebenso Kür-Dinge: ein Unteroffizier, mit dem ich auch nach der Entlassung im April 1973 noch eine Weile in Briefwechsel stand, führte Schmalz und Gewürze mit sich „am Mann“, um im Fall der Fälle etwas braten zu können: Pfifferlinge zum Beispiel, die uns auf dem Truppenübungsplatz Wittstock zu Millionen geradezu ins Kochgeschirr hüpften: Wohl uns, die wir einen Mann mit Bratfett und Gewürzen dabei hatten, gelagert in einer zweckentfremdeten Munitionskiste, NVA-grün gestrichen.

8. Juli 2018

Das Schöne an dieser Fußballweltmeisterschaft ist, dass wir am nächsten Sonntag wissen, wer 2022 in Quatar in der Vorrunde kläglich scheitern wird, Russland ist es nicht. Erst weitere vier Jahre später spielen dann so viele Mannschaften Vorrunde, dass selbst Vizeweltmeister sie überstehen werden. Es ist denkbar, dass bei der kommenden Winter-WM bei Ölscheichs auch die Superstars und ihre Wasserträger wegen der noch jungen Saison in den Hauptländern bei Kräften sind, die meisten Spiele werden noch vor ihnen liegen. Ob der DFB und seine Oberen sich aufraffen, künftig mehr Kaltz-Flanken und Hrubesch-Kopfbälle zu trainieren, wissen wir noch nicht, die Zeit der Analysen hat erst begonnen, die Zeit der Schlussfolgerungen folglich noch nicht: erst die Diagnose, dann Therapie, sagt der Apotheker. Derweil hat eine Überprüfung ergeben, dass die Sauerkirschen noch etwas Sonne vertragen können, die Johannisbeeren aber (weiß und rot) sind marmeladenreif.

7. Juli 2018

Zwei Stunden dieses Tages sind schon vergangen, als wir aus Bad Hersfeld zurückkehren auf unseren heimischen Parkplatz. Der schöne Parkausweis für den Presseparkplatz dort hat uns nichts genützt, es war, wie zu erwarten, alles voll, das Parkhaus, welches wir wie in den vergangenen Jahren nutzen wollten, ebenfalls, schließlich stellten wir uns dorthin, wo wir unsere erste Festspiel-Visite einst begonnen hatten, mit gleich zwei Presseausweisen. Am großen Aufgalopp mit rotem Teppich drückten wir uns vorbei, sahen dennoch genug posierende und nicht posierende Prominenz. Wolfgang Bosbach fehlte in diesem Jahr offenbar, dafür stand Volker Bouffier im Scheinwerferlicht. Franziska Reichenbacher in Signalrot wurde derart intensiv belichtet, dass es fast wie in Cannes war oder auf dem Lido in Venedig. Für uns heute vor allem Müdigkeit, geistige Nachbereitung und mehr Fragen als Antworten. Kann Nina Petri nur Nina Petri? Und was kann Anouschka Renzi?

6. Juli 2018

Als der schon in die rechte Ecke gedrückte Skandal-Schweizer Christian Kracht sich unlängst als Missbrauchs-Opfer outete, ging das Feuilleton in sich: muss man nun alles neu lesen, was er schrieb seit „Faserland“? Jetzt hat Bodo Kirchhoff sich auch als Missbrauchs-Opfer geoutet, zu allem noch passend zu seinem heutigen 70. Geburtstag. Wäre ich Aufmerksamkeitsökonom, das ist eine noch ziemlich junge Disziplin mit peinlichen Durchblicken auf unser gesamtgesellschaftliches Sosein und Verfasstsein, hätte ich nun schlechte Tage mit mir. Es ist heute auch Gedenktag für Jan Hus, der in Konstanz öffentlich verbrannt wurde 1415, der ARD-Videotext verschweigt den Ort seines Todes. Ich verschwieg gestern die WIKIPEDIA-Sünde an Vera Oelschlegel: ihre Erstaufführung von „Quartett“ im TiP kennt die Netz-Enzyklopädie nicht, dafür ziemlich jede West-Aufführung. In Bad Hersfeld sehe ich heute „Peer Gynt“, die Eröffnungsrede vorher hält Vizekanzler Olaf Scholz.

5. Juli 2018

Wenn es in der DDR Society-Nachrichten gegeben hätte, gar eine Yellow Press, dann wäre Vera Oelschlegel sicher hier und da in die Schlagzeilen geraten. Sie erreichte die Ehezahl von Elisabeth Taylor nicht annähernd, selbst Joschka Fischer und Gerhard Schröder murmelten öfter „Ja, ich will!“, aber sie legte eine Ehemänner-Folge hin, die mich noch heute irritiert, wenn ich zufällig auf sie stoße: Erst Günther Rücker, dann Hermann Kant, schließlich Konrad Naumann. Ich erinnere mich gut halblauter Debatten Mitte der 80er Jahre: Wen sollen wir uns wünschen als Nachfolger Honeckers: Krenz, Naumann oder Schabowski? Krenz wollte niemand, vor Naumann empfand man in einschlägigen Kreisen regelrecht Angst. Blieb Schabowski, der dann ja immerhin noch die Mauer plautzen ließ. Vera Oelschlegel ist heute 80 Jahre alt, ihr „Theater im Palast“ habe ich nie von innen gesehen, obwohl dort auch Heiner Müller gespielt wurde: die DDR-Erstaufführung von „Quartett“.

4. Juli 2018

Schriftsteller, die mit 92 immer noch keinen vernünftigen Literaturpreis bekommen haben außer der silbernen Ehrennadel des Anglerverbands für einen Regionalkrimi, in dem ein Kormoran-Mörder von einem Richter, dessen Bruder Forellen züchtet, mangels Beweisen freigesprochen wird, nennen Schriftsteller, denen im Abstand weniger Jahre alle wichtigen und etliche weniger wichtige Preise zufallen, gern Preisabwurf-Stelle. Die Nachricht, der diesjährige Georg-Büchner-Preis falle an Terézia Mora, ließ mich sofort meinen betreffenden Archiv-Ordner hervorziehen: Mora bekam erst den Ingeborg-Bachmann-Preis, später den Deutschen Buchpreis und jetzt also diesen. Das ist ihr zu  gönnen. „Kopf unter Wasser“ heißt der älteste Text über sie, den ich finde, gedruckt im SPIEGEL am 4. Oktober 1999. Der SÜDDEUTSCHEN antwortete sie 2004 auf die Frage „Wann stehen Sie eigentlich auf?“ so: „Wenn ich wach bin, stehe ich auf.“ Sie hatte damals 5 Meter zum Schreibtisch.

3. Juli 2018

Die Enthorstung zum heutigen plastiktütenfreien Tag hat leider nicht geklappt, es hilft wenig, an Jim Morrison und Brian Jones zu denken, die 1971 und 1969 den irdischen Gefilden entschwebten, Kafkas Geburtstag spielte beim Finden dieses herrlichen Kompromisses, den man längst hätte finden können und müssen, sicher keinerlei Rolle, Manfred Bieler noch weniger. Der entfloh zwar aus der DDR, aber erst in die Tschechoslowakei mit ihrem Prager Frühling. Die Nationalmannschaft hat neben allem, was sie verlor, auch noch den Platz 1 in der ewigen Torschützenliste bei WM-Turnieren an Brasilien verloren, das gestern Mexiko zeigte, wie man es besiegt. Wenn man auf einem Konto sehr lange keinerlei Aktivitäten hat, erlischt das SEPA-Lastschriftmandat von allein, man muss es dann auf dem Wege einer Erneuerung wieder in Kraft setzen, in der Zwischenzeit kann man dem leeren Konto keine Auffrischung zukommen lassen. So bin ich heute ein Banklehrling.

2. Juli 2018

Die Enttäuschung über den Horst hat mir gestern den Abend verhagelt, eben noch die beiden netten Elfmeter-Duelle, dann plötzlich eine jähe Unterbrechung und auf dem Smartphone kam schon die Nachricht von SPIEGEL online, der Horst sei von seinen Ämtern zurückgetreten. Ich dachte: Horst, dachte ich, das geht doch nicht, du kannst doch der Angela nicht zuvorkommen, die dich rauswerfen muss und dann saß ich, zappte und zippte durch die Nachrichtenkanäle und alle sonstigen und stets hieß es, es werde in Kürze eine Pressekonferenz geben. Derweil standen alle Korrespondenten in München und Berlin und sagten wortreich nichts, nur der Heiner Bremer war stinksauer, weil eine Regionalpartei meint, die deutsche Politik bestimmen zu müssen. Wenn das die PDS einst gewollt hätte, der hätten wir aber die Schaukästen vor der Parteizentrale zertreten. Das hat Heiner natürlich nicht gesagt. Also der Horst könnte jetzt mit einem schönen schnellen Rücktritt Europa Gutes tun.

1. Juli 2018

Ein gutes Stündchen nur brauchen wir von Bad Kissingen bis Ilmenau, ich warf noch ein gerolltes Scheinchen in die Sammelbox für Trinkgelder nach dem Frühstück, das Trinkgeld für die Masseuse (oder Masseurin) mit dem böhmisch-mährischen Akzent taucht auf der Zimmerrechnung auf. Der Tiefgaragen-Stellplatz kostet pro Nacht so viel wie der in der Berliner Wielandstraße, den wir aber zuletzt kaum brauchten, weil wir die Bahn benutzten. Wir buchen das erste Halbjahr 2018 unter „gelaufen“, die endgültige Bewertung überlassen wir der Nachwelt. Der aktuelle SPIEGEL lässt die Farben unserer Flagge vertropfen und hat die Titelzeile „Es war einmal ein starkes Land“. Wenn ich in den Keller gehe, kann ich mir dazu passend diese Überschrift bildlich machen: „Es war einmal ein starker SPIEGEL“. Mehr als 300 Seiten stark war er und wesentlich preiswerter als heute, wie das Land, so sein SPIEGEL, möchte man sagen, nur tröstet es kaum. Die Titel sahen besser aus.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround