Tagebuch

18. Juni 2018

Ich befinde mich in einem Motivationsloch, hervorgerufen durch eine unglückliche Kombination von Unzuverlässigkeit an einer Stelle, Unzuverlässigkeit an einer anderen Stelle und Seltsamkeiten an weiteren Stellen, denen ich mit Rationalität und Logik nicht beikomme. Das macht mich krank. So wartet auch mein Text über „Die Räuber“ noch auf mich. Immerhin gibt es auch Neues im alten Leben, ich verabschiede mich dieser Tage von meiner Kreditkarten-Kombination, der ich mehr als Vierteljahrhundert die Treue hielt. Es führt eben der Brexit, wir erinnern uns dunkel, da war was mit Großbritannien, dazu, dass meine Bank bald außerhalb der EU-Außengrenzen residiert und an eine ihrer Filialen übergeben müsste, die innerhalb dieser Grenzen fortexistiert. Grenzgänge von Banken aber will ich nicht an mir testen lassen. Testperson bin ich zunehmend weniger gern. Ein Brief an mich enthält den traurigen Hinweis, Vertrauensschutz habe der Gesetzgeber leider nicht vorgesehen.

17. Juni 2018

Nachtrag: Als wir (wir hier gehörten ja noch gar nicht dazu), also als wir vor 36 Jahren zuletzt das Auftaktspiel verloren gegen Algerien, haben wir uns später böse an den Algeriern dafür gerächt mit dem berühmt-berüchtigten Schweine-Spiel gegen Österreich in Gijón. Zur Strafe ist Italien zum dritten Mal Weltmeister geworden. Diesmal ist Italien gar nicht dabei und wenn wir es nun machen wie Frankreich, Italien und Spanien als amtierende Weltmeister, werden wir wohl zu Neuwahlen gelangen und nicht nur Horst wird sich zum Horst gemacht haben. In einigen dritten Programmen sind schon passende Untergangsszenarien vorentworfen und die Medien, also viele, viele Medien warten bibbernd auf den herrlichen Montagsskandal. Das bisherige Parteiensystem wird womöglich einfach weggepustet, mangels Macron-Doubles wählen wir vorübergehend so lange, bis es zu einer fragilen Koalition reicht, deren Protagonisten noch nicht einmal das ARD-Hauptstadt-Studio kennt.

16. Juni 2018

Nachtrag: Ich bin auf dem Weg zum Jungen Staatstheater Berlin, so heißt das und außerdem einfach Parkaue mit Flugzeug im Logo an einem großen roten Bau vorbeigekommen, den ich seit 42 Jahren und sechs Tagen nicht mehr sah, weil ich dort einfach nicht hinkam, wenn ich in Berlin war. Es ist das Rathaus Lichtenberg, in dem ich an einem schönen Junitag 1976 mein Jawort murmelte, ehe die  nunmehrige Gattin mit etwas Mühe mir den Ring über den Finger schob. Der müsste zerschnitten werden, sollte er vom Finger, aus welchen Gründen auch immer. Nun gut. Mein Platz im Theater nannte sich Traverse rechts, ich hatte schlimme Befürchtungen, als ich das auf meiner Pressekarte las, aber es war ein normaler guter Platz mit guter Sicht auf Bühne und Scharen von Elftklässlern, die, wie ich hörte, im Kursteil „Sturm und Drang“, wählen dürfen zwischen „Kabale und Liebe“ und „Die Räuber“. Heute Halb-Marathon zu Fuß: Treptow mit Ehrenmal und die East Side Gallery.

15. Juni 2018

Wenn die einstige FDJ-Tageszeitung JUNGE WELT über die einstige SED-Tageszeitung NEUES DEUTSCHLAND und deren aktuelle Existenznöte in einer Weise berichtet, dass dabei auch nicht eine Nanospur Häme herausschaut, dann ist das, bedenkt man die politisch-ideologischen Gräben zwischen beiden, mehr als bemerkenswert. Aus JW-Sicht hatte ND nach 1989/90 wohl stets etwas von Verrat oder wenigstens Linienbruch, die reine Lehre immer wieder revidierend. Jetzt eine fast trotzig wirkende indirekte Solidaritätserklärung, man habe doch gemeinsam die Konterrevolution überlebt. Wie es wirtschaftlich mit JUNGE WELT steht, davon natürlich kein Wort. Stünde es besser, wäre die jetzt fehlende Häme sicher schon der Überschrift zu entnehmen. So weit gestern. Heute bin ich zwecks Doppelnachfeier von Geburtstagen in der Hauptstadt. Von Schillers Doppel-„Räubern“ im Monbijou-Theater und an der Parkaue gönne ich mir einen und schweige morgen.

14. Juni 2018

Vollsperrung des Rennsteigtunnels bei Heimreise aus Coburg? Das Vergnügen hätte ich mir gern gespart, ich wusste nicht mehr, wie viele Kurven es auf der alten Strecke gibt und wie wenige Fahrzeuge jetzt. Ich war allein. Einmal, aber schon zwischen Stützerbach und Meyersgrund, querte ein Häslein die Fahrbahn von rechts nach links, später, zwischen Meyersgrund und Manebach, querte ein Rehlein die Fahrbahn von links nach rechts, die gesperrte Ortsdurchfahrt Oberpörlitz auf dem Hinweg war ein Witzlein dagegen. Ich repetierte die Heimfahrten nach Streikmeetings 1996, da uns die Hirsche vom schnellen Fahren abhielten, man hupte vorsichtshalber wie sonst nur an der Amalfiküste wegen des Gegenverkehrs. Wieder ein solider Theaterabend, ich erstmals in der ersten Reihe des ersten Ranges zwischen Damen, die den Kopf auf dem Schwert lustig fanden, Macbeths Kopf, den Macduff in unsichtbarem Akte vom Rumpfe getrennt hatte. Bloody Shakespeare, bloody.

13. Juni 2018

Kann man in einem Luxus-Hotel seine Zelte aufschlagen? Wahrscheinlich eher nicht, es sei, man ist eine Fußball-Nationalmannschaft. Die deutsche muss in diesem Jahr nur 40 Kilometer von Moskau entfernt in einem Quartier campieren, das den Charme eines Schullandheims versprüht. Nun weiß ich zwar nicht, ob es den Sprüh-Charme in Flacons oder in Schaumseifen-Spendern gibt, ich habe jedoch, ohne je Nationalmannschaft gewesen zu sein, bereits einmal in einem Moskauer Olympia-Quartier genächtigt. Es war ein hohes Hochhaus. Versprüht wurde da nichts, aber es gab richtige Duschen, richtige Toiletten, richtige Fahrstühle und das Haus war hoch wie unsere in Lichtenberg, in denen die Genossen des Ministeriums für Staatssicherheit ihre Ein- bis Dreiraumwohnungen bewohnten, je nachdem, ob sie zwei, drei oder fünf Kinder hatten. Heute wäre der Journalist Jean Villain 90 Jahre alt geworden, ein seltsamer Schweizer, der in der DDR Reporternachwuchs erzog.

12. Juni 2018

Weil ich die Premiere nicht wahrnehmen konnte, was ja im Grunde nicht schlimm ist, sehe ich den Coburger „Macbeth“ erst morgen, mitten in der Woche bin ich sonst nie dort, aber anders geht es nicht, denn am Wochenende bin ich schon wieder in Berlin und dort sogar in einem Theater, in dem ich, Schande, streng genommen, noch nie war, um meine Schiller-Stoffe auszupolstern. Ich hoffe, dass die ringsumher darnieder gehenden Starkregen und Hagelfälle nicht ausgerechnet mich treffen. Immerhin: heute sitze ich noch trocken an meiner Shakespeare-Datei. Denn alles, was ich jetzt tue, muss ich für den Weimarer „Macbeth“ zu ungewohnter Premierenzeit nicht mehr tun. Dann werde ich innerhalb von nicht einmal einem Jahr viermal die kürzeste Tragödie des alten William gesehen haben. Derweil verblüht draußen der Holunder. Vor genau 10 Jahren besuchten wir den kleinen Ort Schengen, bekannt wegen des Abkommens. Wir parkten direkt über einer Deutschland-Bodenplatte.

11. Juni 2018

Am 18. Juni 2012 vermerkt mein später auch gedrucktes Tagebuch, mein Enkel sei nun genau sieben Tage alt. Heute rief ich ihn, bevor er noch mit seinem kleinen Bruder gen Kindergarten ging, rasch an, ihm zum sechsten Geburtstag zu gratulieren. So schnell, sagt man bei solchen Anlässen, huscht die Zeit weg. In einem Fotoalbum finde ich Aufnahmen vom 11. Juni 1998, wir waren im belgischen Lommel, spazierten später am „Kanaal Bocholt-Herentals“ zum Abschied, einige Bilder zeigen Papageien und Flamingos in der Parc Plaza De Vossemeren. Die Kaninchen, die wir von unserem Hotelfenster aus auf dem Rasen hüpfen sahen, sind nur im Gedächtnis festgehalten. Ein Zählspaß von gestern kurz vor dem POLIZEIRUF: 22 der 26 schweizerischen Kantonshauptstädte kennen wir nun mehr oder weniger gut aus eigener Anschauung, von den fehlenden vier gehören drei zur französischsprachigen Eidgenossenschaft. Die Herausforderung liegt klar auf der Hand.

10. Juni 2018

Nachtbeobachtung, unfreiwillig: Normalerweise schaue ich nur kurz aus dem Fenster, wenn ich zu später Stunde noch frische Luft in mein Schlafzimmer lasse. Es sei, ich höre Geräusche wie heute gegen 2.30 Uhr. Es klingt wie Rollkoffer. Mein erster Gedanke: woher kommt um diese Zeit jemand mit Koffer? Es fährt keine Bahn, kein Bus. Es ist aber kein Rollkoffer, sondern ein Gefährt, wie es ältere Leute benutzen oder Zusteller von Zeitungen und Werbematerial. Es scheint eine Frau zu sein, die damit am Containerstandplatz hält. Plötzlich leuchtet eine starke Taschenlampe, die gelben Tonnen werden aufgeklappt, ein sportlicher Abtauch-Vorgang in die erste und was auf den Boden fällt, klingt nach Plasteflasche. Aus der mittleren Restabfall-Tonne landet ein verschnürter Sack komplett draußen. Die Person, die mich nun neugierig gemacht hat, entschwindet über die Stufen zur Abbé-Straße und dort in einen der Aufgänge des sanierten IWG-Blocks. Müll-Geisterstunde?

9. Juni 2018

Nachtragsfrei Ilmenau: Es ist Sommer, Deutschland gewinnt gegen Saudi-Arabien, das erschüttert uns noch am ersten heimischen Frühstückstisch nach diesem netten Kurztrip mit einem Dresdner Reise-Büro. Uns Uwe (nicht Seeler natürlich) wird heute 63 Jahre alt, was wir nicht mit Mitgefühl begleiten, sondern mit all unseren guten Wünschen, von denen wir einen soliden Vorrat besitzen. In wenig mehr als vier Wochen werden wir uns in Bad Staffelstein aalen alle zusammen. Unsereiner verbindet mit dem 9. Juni ebenfalls ein Sondergefühl: Vor zehn Jahren begingen wir den Tag in Luxemburg, wo wir uns für eine Woche einquartiert hatten, vor zwanzig Jahren in De Vossemeren in Belgien. 2001 nannten wir diesen Tag Silberhochzeit, seither verbringen wir ihn alle fünf Jahre im selben Hotel am Canale Grande, drei Jahre halten wir noch durch bis zur nächsten Tour und sind ernsthaft am Überlegen, ob wir die Nummer nicht einmal mit der Bahn absolvieren. Wäre denkbar.

8. Juni 2018

Nachtrag ohne Leysin: Deutsche Autobahnen sind dafür berühmt, dass man auf ihnen, wenn die Reisesaison im Gange ist, steht, weil gebaut wird. Defekte Brücken kannten wir eher aus den Haupt-Nachrichten über Infrastruktur-Defizite der Bundesrepublik, deren Altteil, wie es scheint, fast ausschließlich defekte Brücken besitzt, über die man sehr, sehr langsam fährt, falls man fährt. Die A 6 beispielsweise könnte man analog zur längsten Praline die längste Endlosbaustelle nennen, was wegen der Spurverengung dazu führt, dass ganz rechts die übliche Million litauischer und polnischer Lkw steht, bisweilen launig unterbrochen durch tschechische, rumänische, bulgarische Trucks, zwischen denen die Reisebusse stehen dürfen. Wir brauchten von Weil am Rhein bis Ilmenau Hauptbahnhof noch knapp zehn Stunden, in dieser Zeit fuhr ich schon von Ilmenau bis Venedig und sogar um den Gardasee herum. Inklusive aller Pausen. Wir erwischten die Stadtlinie.

7. Juni 2018

Nachtrag Leysin: Bergerfahrungen sind hilfreich, wenn man bei weit über 20 Grad einen Bus besteigt, der zum Grand St. Bernard auffährt. Denn oben, Überraschung, liegt noch massiv Schnee, die glatten Schneewände neben der Fahrbahn reichen weit über die Köpfe. Mit zwei Jacken sind wir gerüstet, einige klappern kurzärmlig mit den Zähnen. Zweiter Halt in Aosta, uns bleibt nur Zeit für sensationelles Eis und das Römische Theater, wir sehen auch beide antiken Tore. Aus Italien nach Frankreich, wo wir in Chamonix Mont Blanc eine kleine Stadtrundfahrt mit einem Bähnle erleben und anschließend sehnsuchtsvoll auf die Bahn zum Aiguille du Midi schauen, die im Augenblick gerade ihre Revision in der Zwischensaison erlebt. Sie fährt bis auf 3842 Meter, man kann den Blick rundum natürlich auch mit Google View erleben, Genuss ist anders. Chamonix sah uns nicht zum letzten Mal. In Leysin schon das letzte Abendmahl, für uns ohne Jünger, dafür fein dreigängig.


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