Tagebuch

19. März 2018

Denis Scheck, der schon manches durfte, darf seit einiger Zeit in DIE WELT „Schecks Kanon“ öffentlich machen. Bisweilen musste man meinen, außer amerikanischer und ab und zu englischer Literatur kenne er gar nichts. Konnte sich aber damit trösten: die kennt er wirklich gut. Weil heute der lebende Schriftsteller, der vielleicht am häufigsten für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht wurde und ihn nie bekam, Philip Roth, 85 Jahre alt wird, sei Scheck zu ihm zitiert: „Es gibt keinen lebenden Schriftsteller, der sich gleichermaßen der Liebe seiner Kollegen wie seiner Leser so sicher sein kann wie Philip Roth.“ So einer kann es sich sogar leisten, seinen Abschied von der Literatur zu verkünden und damit mehr Aufmerksamkeit überall zu erregen, als 99,99 Prozent aller anderen Autoren weltweit in ihrem gesamten Leben und zusammen genommen. Derweil schreitet draußen die Erderwärmung rasant fort, am Sonnabend war der kälteste 17. März seit Aufzeichnungsbeginn.

18. März 2018

Noch immer minus 6 Grad in der Frühe, etwas mehr Schnee als gestern und ein Himmel, den man wirklich nicht sehen möchte. Lawrence Sterne starb vor exakt 250 Jahren, sein „Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys“ war in der immer noch nicht hoch genug zu lobenden „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“ der Verlagsgruppe Kiepenheuer 1989 einer der letzten Bände. In meinem Regal steht daneben die „Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien“, gekoppelt mit dem Fragment „Tagebuch für Eliza“ zum Reclamband 728. Darin auch jenes Vorwort, das Anselm Schlösser für seine Sammlung „Englische Essays aus drei Jahrhunderten“ auswählte, damit Sterne vertreten sei. Es enthält eine sehr hübsche Typologie der Reisenden, von denen es seiner Meinung nach in dieser Reihenfolge einfältige, müßige, neugierige, verlogene, hochmütige, eitle und verdrießliche gibt und schließlich auch die empfindsamen, zu denen er bescheiden sich selbst zählt. Sterne als Trendsetter.

17. März 2018

Ohne meine gestrige Vorarbeit am zugeschneiten Auto wäre ich heute glatt zu spät nach Gotha gekommen. So war wenigstens die Frontscheibe trotz minus acht Grad halbwegs frei, der Rest in überschaubarer Zeit freigefegt, freigekratzt. Das letzte Stück ab Autobahnabfahrt gestaltete sich in beide Richtungen zum leisen Horrortrip, Schnee wehte über die Fahrbahn und die begleitenden Verkehrsnachrichten wussten von vielen unpassierbaren Straßen wegen querstehender Lkw. Ich kam tatsächlich in der Parkstraße an, Tagungsort im ehemaligen Schlachthof. Bis zur Mittagspause waren Gesprächsrunde auf dem Podium und Vorstandsberichte abgehakt, nach dem Brätel lebhafte Diskussion, schließlich ein paar Wahlen mit Stimmzettel, zwei Beschlüsse, ein Dringlichkeitsantrag, auch Journalisten achten auf Geschäftsordnung. Aus keiner Kurve getragen, keinen entgegen kommenden Rückspiegel weggesenst, müde in Ilmenau zurück, ein Samstag, es gibt solche eben.

16. März 2018

Die Menge der sichtbaren Titel des Hauses ist gegenüber ursprünglich 138 auf aktuell 62 gesenkt, dictum Ilmenau verabschiedet sich damit keineswegs von sprudelnden Einnahmequellen, sondern von Büchern, die mit ihren Nachfragewerten unter der Zahl von Schwarzstorch-Nistpaaren am Lindenberg liegen. Der Reprint-Umsatz wird wohl allgemein überschätzt, zumal die entsprechenden Häuser ja eine Zeit wie Fliegenpilze aus dem Boden schossen. Ich bin gestern öfter als in anderen Jahren gefragt worden, ob ich zur Buchmesse fahre, was ich verneinen musste, gleichzeitig die dreiste Behauptung aufstellend, bei vollständigem Übergang der gesamten Wohnungsbelegschaft in den Rentenbezug dies wohl ins Auge fassen zu wollen. Heute vor 80 Jahren sprang Egon Friedell in Wien aus dem Fenster seiner Wohnung im dritten Stock, der Verhaftung durch die SA zu entgehen. Gestern vor 75 Jahren starb in Wien Karl Schönherr eines natürlichen Todes. Ich mag beide sehr.

15. März 2018

Ein Geheimnis, das keins mehr ist, kann man dann auch förmlich lüften: Mein Buch Nummer 9, ISBN 978-3-95618-138-2, ist käuflich zu erwerben, der Web-Shop des Verlages (www.dictum-verlag.de) zeigt es an, der Titel ist „Wie es mir gefällt. 33 Shakespeare-Kritiken“, das kostet den lesenden Endverbraucher bescheidene 19,50 Euro. Es war als Gabe des Verlages zu meinem 65. Geburtstag gedacht, ich hielt auch tatsächlich das erste Exemplar am 23. Februar in den Händen, danach gab es diese und jene kleine und mittlere Schwierigkeit. Als mithelfender Ehegatte der Verlegerin habe ich zu später Stunde ein wenig erste Ordnung in das Angebot gebracht, wer nur wissen will, was da eigentlich so alles im Angebot ist, hat es nun wesentlich leichter als noch bis gestern. Die augenblicklich noch nicht sichtbaren, aber vorhandenen Titel folgen in Kürze. An den Zeitungen mit den Buchmesse-Beilagen schleppte ich schwer am Morgen, das Archiv wartet nun.

14. März 2018

Die Teilnehmer am Internationalen Karl-Marx-Jahr 2018 können sich heute bereits einweinen am 135. Todestag des großen Bartträgers. Leicht brandige Gerüche aus dem Treppenhaus ließen mich zwar nicht an Selbstentzündung meiner alten Parteitagsbroschüren im Keller denken, eine leichte Neugier aber konnte ich nicht unterdrücken. Schaffende des Bauhandwerks waren dabei, eine in ihrer aus tiefen DDR-Zeiten überlieferten Form nicht mehr benötigte Stahltür mit schweren Hebeln im Keller ersatzlos zu entfernen und den Eingang zu vermauern. Dieser Raum hatte immer zwei Zugänge, hinfort nur noch den zweiten von hinten. Passend zum näher rückenden Frühling fallen draußen einige Kleinflocken und ich denke darüber nach, ob gendergerechte Nationalhymnen das große Thema einer übersättigten Welt werden könnten. Als Mann frage ich mich nun schon, ob der Stück-Titel „Arzt am Scheideweg“ von George Bernard Shaw nicht alle Penisträger diskriminiert.

13. März 2018

Eine rettende Idee, zwei längere Telefonate führten mich gestern noch auf die Spur. Jetzt habe ich eine Datei in die weite Welt des hohen Nordens gesandt, von der ich begründet annehme, sie führe zu dem Resultat, das ich schon vor fast drei Wochen eigentlich hätte in den Händen halten wollen. Es gibt eine winzige kleine Ärgerlichkeit immer noch darin, die ich aber großzügig dem Phänomen Lehrgeld zuordne und entschlossen ignorieren werde. Immerhin sind auf Wegen und Umwegen bis zu zwei besorgte Anfragen bei mir eingetrudelt, ob denn alles in Ordnung sei, vor allem aber nichts passiert. Ich gehöre zu den Menschen, die sich selbst mehr und stärker unter Druck setzen, als sie es von außen zuließen. Unter den Psychologen für ältere Kinder wie mich sind einige, die ermahnende Worte an mich richten würden, wenn sie wüssten, dass es mich gibt. Lernpotential ist keineswegs erschöpft in mir, nur mit dem Änderungspotential hapert es ein wenig, es gibt Fachvokabeln dafür.

12. März 2018

Nachtrag: Erstmals in 65 Lebensjahren war ich in der Kranichfelder Straße in Erfurt, wo es ein sehr großes Gebäude gibt mit einem Wachtdienst-Mann links, der sich extrem freundlich und gut gelaunt für nicht zuständig erklärt, und einer Anmeldung, deren einer Schalter eben nicht besetzt ist. Einen Termin haben wir am PC generiert, weshalb wir tatsächlich bevorzugt bedient werden, die Warte-Nummer 161 bekommen und schon vor unserer eigentlichen Zeit im zuständigen Zimmer Nummer 2 sitzen. Wir haben nicht alle Unterlagen bei uns, die wir hätten bei uns haben sollen, weshalb wir am Donnerstag einen Nachhole-Termin nutzen müssen. Immerhin weiß ich jetzt, dass meine Netto-Rente nicht gar so gruselig ist, wie ich vermuten musste, und wenn nach den sieben Bonusmonaten für Jahrgang 1953 Ende Oktober die erste BfA-Kohle rüberwächst, bin ich sogar schon Nutznießer der Rentenerhöhung vom Juli. Brave alte Bundesrepublik Deutschland. Was haben alle gegen dich?

11. März 2018

Nachtrag: Wer mir Böses gönnt, gönne mir solche Nächte wie die, die ich nun hinter mir habe. Alle anderen mögen sich wünschen, so etwas bleibe einmalige Ausnahme. Immerhin muss ich am Ende des Kalenderjahres 2018 nicht lange grübeln, was mein Wort des Jahres sein könnte: Lehrgeld. Das zahle ich halbwegs tapfer, indem ich weder zum Tagebuch komme noch zu allen aufgeschlagenen Büchern, allen angefangenen Texten. Nicht einmal die Post ist geöffnet, die E-Mails alle ungelesen. Immerhin: mein Frauentags-Geschenk erlaubte mir, eine Weile auf andere Gedanken zu kommen. Die unendliche Müdigkeit geht dennoch leider nicht in hinreichend langen wohltuenden Schlaf über. Im Restaurant traf ich eine meiner insgesamt vier Nachwende-Sekretärinnen. Da sie genau zehn Jahre älter ist als ich, muss ich nie lange nachdenken. Sie gehört zu den Frauen, die scheinbar nicht älter werden. Ich zu den ehemaligen Chefs, die mit ihren Sekretärinnen Glücksgriffe hatten.

10. März 2018

Nachtrag: Heute beginnt der Reigen der Buchmesse-Beilagen. Meine Bestell-Liste habe ich wie in allen Jahren zuvor brav und übersichtlich geschrieben abgeliefert. Nur hat meine Zeitungsfrau den Job gewechselt und ich muss mich in Gottvertrauen üben, dass auch in diesem Jahr alles klappt. Den persönlichen Besuch in Leipzig, den ich kurzzeitig erwog, muss ich sofort wieder vergessen, denn in einer Woche bin ich in Gotha, um letztmals den Mandatsprüfungsbericht vorzutragen, den auch organisierte Journalisten nicht großzügig übergehen können, ehe sie sich ihrer alljährlichen Hauptversammlung hingeben. Mein privater Gedenkkalender erinnert mich heute an Joseph von Eichendorff, die Gedenkfarbe signalisiert: Es ist der 230. Geburtstag. Vor fünf Jahren setzte ich mit dem Titel „Nichts langweiliger als Glück“ meinen alten Beitrag zum 200. Geburtstag ins Netz, wo er bis heute nachgelesen werden kann, Rubrik ALTE SACHEN. Mein Kopf ist heute sehr weit weg.

9. März 2018

Gedächtnis: erst der Blick in mein Archiv belehrt mich, dass ich vor fast 30 Jahren schon einmal über Sartre schrieb, die Mauer war bereits, nach heutiger Terminologie, gefallen. „Mit eigenem Kopf“ hieß mein Text am 28. November 1989 in JUNGE WELT. Jetzt sah ich in Meiningen, leicht konfuser Foyer-Atmosphäre glücklich entronnen, „Die schmutzigen Hände“. Und will nun, am 100. Todestag von Frank Wedekind, darüber schreiben. Zum Glück muss ich nicht hasten, zum Glück kann der alte Wedekind auch geduldig sein. Sartre hat mich, das ist sicher, sehr früh sehr stark beschäftigt, selbst mein Liebesleben hatte mit einem Sartre-Band aus dem Leipziger Reclam-Verlag einen zarten Berührungspunkt. Die rote rororo-Ausgabe aus Reinbek bei Hamburg, aus der Phillip Henry Brehl gestern einen Band über die Bühne schleppte, besitze ich vollständig, sie füllt eine lange Reihe in meinem Frankreich-Regal. Was ich schreiben werde, ordnet sich langsam im Kopf.

8. März 2018

Einen Augenblick bin ich an diesem Internationalen Frauentag beinahe gelähmt: auf seiner Seite 13 teilt NEUES DEUTSCHLAND heute seinen Lesern, zu denen ich seit Jahren immer donnerstags gehöre, mit: „Thüringens Schulbüchereien haben vor allem Bücher in den Regalen“. Sollten sie besser Meerschweinchen dort haben oder Staubflusen oder bronzierte Gipsbüsten des Thüringer Ministerpräsidenten Ramelow? Ich hörte gerüchtweise von einer Schulbibliothek, die gar zwei Bücher einstauben lässt, die von mir verfasst wurden, juffijuffijuffi, man male sich das aus. Das Klassentreffen, in das ich gestern geriet, ohne zu ahnen, dass es die Ausmaße haben würde, die es hatte, war mein erstes mit derart vielen Rentnern und Rentnerinnen. Viele von ihnen freuten sich, mich zu sehen und ich freute mich zurück. Nun geht das Leben weiter, von freudigen Ereignissen rede ich nicht mehr, denn wenn sie verspätet eintreten, ist ihre Freudigkeit irreversibel beschädigt


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