Tagebuch

27. Januar 2021

Ein Tag ohne Eintrag im Arbeitskalender. Unter dem Druck, auf Termine zuzuschreiben, die ich mir selbst stelle, geht manches gut, manches nicht. Letztlich beweisen die Reaktionen auf das, was ich ins Netz stelle, dass die wichtigeren von ihnen vom Veröffentlichungstag gar keine Notiz nehmen. Die Erklärung ist einfach: ich werde nicht als Tageszeitung gelesen, selbst wenn die Tageszeitungen sich Gegenständen widmen, die ich auch aufgreife, zum Teil allein und als einziger, zum Teil im Kleinchor der Stimmen. Vor ein paar Jahren hatte ich einmal die Idee, mich als Redner zu versuchen, wenn am 27. Januar auf dem Wetzlarer Platz der Auschwitz-Befreiung gedacht wird. Mir geht regelmäßig das Wenige durch den Kopf, das mein Vater erzählte, immer kam rasch der Zweifel, ob das schon oder überhaupt erzählbar wäre. So lese ich lieber weiter in Kurt Martis „Die Schweiz und ihre Schriftsteller – die Schriftsteller und ihre Schweiz“. Mit Blick auf den Sonntag.

26. Januar 2021

Eröffnungen sind derzeit virtuelle. Die Staatsbibliothek zu Berlin, im Fernsehen anzuschauen als endlich fertig gewordene Großinvestition, in der die viele Jahre, Jahrzehnte, mehr oder minder Ruine gebliebene Mitte des Baukörpers jetzt wieder vor Repräsentativität strotzt. Es gibt Menschen, die solcher Art Anmutung instinktiv abwehrend begegnen. Ich nicht. Ich habe wichtige Teile meiner Studentenzeit wie auch später meiner akademischen Laufbahn, was für ein Wort angesichts des Endes dieser Laufbahn, dort verbracht, habe in Zeitschriften-Bänden geblättert, Bücher gelesen oder sehr häufig auch ausgeliehen. Als ich nicht mehr in Berlin lebte, schickte ich Leihscheine mit der Post, der spätere ruhmreiche Verleger Christoph Links warf sie auf dem Weg zur Arbeit oder von ihr ein und wenn ich dann wieder einmal in die Hauptstadt der DDR reiste, lagen meine Bücher bereit zu Lektüre oder Ausleihe. Ich schrieb manches mit bibliothekseigener Schreibmaschine vor Ort ab.

25. Januar 2021

Nach Auszählen der binnen dreier Tage geschriebenen Absätze zu Wilhelm Weitling, dessen 150. Todestag heute ist, bin ich dann doch milde erschrocken. Nie hätte ich gedacht, einmal so viel über diesen Backbartträger zu schreiben. Dabei auf so viele interessante Dinge und Geschichten zu stoßen, selbst den 2019 etwas jählings verlassenen Gottfried Keller wieder einmal und mit vielem Vergnügen in die Hand nehmen zu können. Sein „Tagebuch 1843“ war schon auf meiner Liste der möglichen Schreibgegenstände, aber wenn ich alles auch tatsächlich geschrieben hätte, was auf dieser Liste schon stand, dann hätte ich mehr geschrieben als Barbara Cartland und fast so viel wie Dietmar Dath. Die nicht schon am Freitag oder Sonnabend den Schnee von ihren Autos geholt haben, hatten am Morgen heftig zu kratzen und zu hacken. Dafür fiel heute wenig Frisches von oben und auf dem Weg zum Glascontainer zwitscherten wild die Vögel, als käme schon Frühling.

24. Januar 2021

Außer den Bayern will in Deutschland, von dem ich gestern nur den Westen meinte, heute aber alle von Ribnitz-Damgarten bis Rielasingen meine, einfach keiner Meister werden. Alle verlieren immer rechtzeitig genug, um den Rekord-Rekordlern die neuen Rekorde so einfach wie nur möglich zu machen. Ich schiebe meinen Karasek wieder ins Regal, wo er zwischen Heinz Beckmann und Kurt Kahl steht, was bedeutet: Frisch zwischen Thornton Wilder und Ödön von Horvath, was gar kein so schlechter Platz ist, wenn man über ihn nachdenkt. Unsere Wanderrunde am frühen Abend bringt 4330 Schritte, der Tracker lobt die Marschgeschwindigkeit sowie das hervorragende Workout und wir beschließen zum Abend, seine Wecker-Fähigkeiten morgen zu testen. Auf 7 Uhr wird er gestellt, mein Analog-Wecker ebenfalls. Der Tatort beginnt heute pünktlich, weder ein Brennpunkt noch andere Störenfriede des Qualitätsjournalismus verschieben den Beginn. Und schon wieder Küste.

23. Januar 2021

Ein kleines Restchen noch, dann habe ich endlich auch Hellmuth Karaseks Büchlein über Max Frisch beendet, in das ich seit Oktober 2018 keinen Blick mehr geworfen hatte. Nun nutze ich die gute Gelegenheit der Vorarbeit für mindestens fünf, höchstens aber sieben Beiträge zu Frisch, die ich in diesem Jahr zu schreiben gedenke, um da und dort Schlussstriche zu ziehen. Die „Literarische Welt“ schenkt heute zwei Komplett-Seiten für Haruki Murakami weg, wogegen nichts einzuwenden wäre, wenn es nicht zwei von nur acht Seiten insgesamt wären. Unser zweites deutsches Gebühren-Fernsehen entzieht uns heute wegen Handball den Friesland-Krimi, wir sehen ihn trotzig aus der Mediathek, weil uns Handball gegen Brasilien nicht annähernd so interessiert, wie uns viel früher Fußball gegen Brasilien interessiert hätte. Die WM 1966 ist dieses Jahr 55 Jahre her: hei, wie verlor da Brasilien gegen Portugal, wie verlor Ungarn gegen die Sowjetunion und die gegen Deutschland!

22. Januar 2021

Kein Wort gegen meinen neuen Fitness-Tracker: während ich nach dem Frühstück genüsslich zusehe, wie Flachlandtapire in einem Zoo im hohen Norden mit frischen Zweigen gefüttert werden, wobei auch ein so genanntes Wasserschwein von den Blättern beißt, summt es an meinem Arm: Achtung, fast eine Stunde inaktiv! Ich springe auf, trage mein leeres Teeglas in die Küche und schnüre durch die Wohnung, um nachzusehen, ob ich mein Bett schon schüttelte (natürlich war das geschehen), da summt es wieder: Bravo, wieder aktiv! Wenn ich irgendwann die nächsthöhere Stufe in der Tracker-Welt erklimme, wird es wohl am Arm summen, wenn ich nach einem Abendbrotbier greife: Achtung, du hattest schon eins zu Mittag! Der „Freitag“, pünktlich schon Donnerstag im Kasten, hat Patricia Highsmith eine ganze Seite gewidmet, die Seite A – Z. Dort las ich, dass die Crime-Lady Frauen, Katzen, Zigaretten und Schnecken liebte. Aus der Reihe fallen die Zigaretten.

21. Januar 2021

Nun ist er weg: Don Feuerlocke, und die Intelligentsia der Welt, die nichts mehr hasst, als sich in ihren Prognosen geirrt zu haben, grübelt immer noch, wie es sein konnte, dass. Ein gewisser Heinrich Heine schrieb in seinen späten „Geständnissen“: „Lasst dem Volk die Wahl zwischen dem Gerechtesten der Gerechten und dem scheußlichsten Straßenräuber, seid sicher, es ruft: „Wir wollen den Barnabas! Es lebe der Barnabas!“ Der Grund dieser Verkehrheit ist die Unwissenheit“. Kann man es knapper sagen? Wer glaubt, eine allgemeine Krankenversicherung sei Kommunismus pur, ist unwissend. 70 Millionen waren und sind unwissend, wenn sie an einen Mann glauben, für den eine Wahlniederlage ein Erdrutschsieg ist. Immerhin hat sich in Uganda bereits einer gemeldet, der meint, er sei mit 37 Prozent Sieger. Ich feiere an diesem Geburtstag meiner Schwiegermutter die Wiedererweckung meines zwei Tage streikenden Outlook: Ganz allein beseitigte ich die Macke.

20. Januar 2021

Neben Patricia Highsmith hätte gestern auch noch ein Ungar 100. Geburtstag gehabt, den ich in meinem eigenen Kalender übersah, obwohl mir sein 1981 erschienener Erzählungsband durchaus mehr als ein paar Zeilen hätte wert sein können: Miklós Mészöly. Heute tritt aus den im Krieg dezimierten Reihen des Jahrgangs 1921 Bernd Engelmann an, von den Lebenden Hans Löffler, den einst Günter Kunert entdeckte und förderte. Zu großem Ruhm ist er auch nach dem Ende der DDR nicht gelangt, wie es ihm geht, weiß ich nicht. Aus meinem nur scheinbar unerschöpflichen Bestand alter Kritiken grabe ich zum 75. heute die zu seinen Erzählungen „Briefe über ein Modell“ aus. Dazu eine am 20. Januar 1989 zuerst und zuletzt gedruckte zu Armin Stolpers „Unterwegs mit einem Entertainer“. Mein neuer Schrittzähler verweigerte während eines Ausflugs zur Sparkasse plötzlich den Dienst, allein der Weg vom Parkhaus bis hin war länger als die angezeigten Schritte. 

19. Januar 2021

Wenn wir es Schneesturm nennen, was uns heute von fast allem abhielt, was wir normalerweise tun, dann ist das nicht sehr stark übertrieben: heftigster Wind, der den zum Glück nicht ähnlich heftigen Schneefall waagerecht bewegte. Die Wahl für mich: Ferdinand Gregorovius und sein Geburtstag Nr. 200, Julian Barnes und sein Geburtstag Nr. 75, Patricia Highsmith und ihr Geburtstag Nr. 100. Von Julian Barnes besitze ich fünf Bücher, von Patricia Highsmith vier und von Gregorovius gar keins. Das macht es einfach: ich wähle die größere Herausforderung. Zumal der edle Gustav Seibt, der für mich immer im Zusammenhang mit Goethe und Napoleon steht, obwohl er in diversen anderen Zusammenhängen natürlich auch steht, die „Süddeutsche“ zum Jubiläum beliefert hat. Von ihm gibt es seit 2001 auch „Rom oder Tod“, da ist er natürlich informiert. Unsereiner vom Jahrgang 1953 hat inniges Verständnis für Bürger des Jahrgangs 1959, wir erlebten da schon unseren ersten Schultag.

18. Januar 2021

Freundlicher Optikerinnen-Anruf: unsere neuen Brillen sind da.  Wir holen sie in der Mittagszeit, die Fußgängerzone ist ohne Fußgänger, ich zahle mit Karte und empfange eine Quittung, die das Finanzamt hoffentlich als besondere Belastung anerkennt. Mein Schrittzähler „Made in China“ scheint ein Montagsgerät gewesen zu sein, nicht ein halbes Jahr tat er seinen Dienst. Heute stellte er 10.48 Uhr zunächst seinen Zeit-Dienst ein, dann seinen Zähldienst, zum Schluss zeigt er nichts mehr. Sein Vorgänger aus der gleichen großen Volksrepublik lebte anderthalb Jahre. Wir wechseln nun nach Südkorea, wo das Laden des Akkus offenbar besonders lange dauert. Zur Belohnung steigt mein Administratorenzugang wieder einmal aus, ich setze die Einstellungen alle zurück und Freund Blei schafft es doch noch rechtzeitig ins Netz: 2095 Wörter. Ein Tankgutschein bringt Ersparnis von 1,44 Euro. Wir überlegen, wie wir die anlegen. Schrittzähler-App zeigt 3991 Schritte Spaziergang.

17. Januar 2021

Ein Sonntag mit Franz Blei und Winterwetter. Die Suche nach einem Archivbestand, der wohl nur in meiner Phantasie existierte, nimmt einige Zeit weg. Immerhin beende ich ein merkwürdiges Buch aus dem Ammann-Verlag aus einer Reihe von Bänden, die Arbeiten von Reich-Ranicki zu einzelnen Autoren sammeln: „Max Frisch. Aufsätze“. Merkwürdig ist dieses Buch, weil es erst auf Seite 19 beginnt, es handelt sich um eine klassische Fehlbindung, wie man sie akribischer „Made in Suisse“ kaum zutraut. Zum Glück habe ich den unvollständigen Aufsatz nicht nur in einem anderen Buch, sondern kann mir sogar das Original aus dem Jahr 1963 neu ausdrucken. Der entsprechende Archivzugang kostet 98 Euro im Jahr, das verrauchen viele in weniger als einem halben Monat. Spazieren heißt heute: mit feuchter Kapuze nach Hause kommen. Der Gelbe Muskateller zum Tatort kommt von Bruno Kirschbaum aus Langenlois, dem Weinpreisträger 2020. Eine Wohltat.

16. Januar 2021

Beim Lesen der „Vossischen Zeitung“ aus dem Jahr 1929 stoße ich auf eine siebenzeilige Meldung: Überschrift „Autounfall Bert Brechts“, Unterzeile „Auf einer Pfingstfahrt in Thüringen“. Dieser Meldung zufolge musste Brecht plötzlich wegen eines Hindernisses auf der Fahrbahn stark abbremsen, ein schwerer Wagen fuhr auf von hinten. „Brecht erlitt mehrere Knochenbrüche und Schnittwunden im Gesicht:“ Sehr viel später konnte man im Berliner Brecht-Haus sogar einen ganzen Vortrag über den Autonarren Brecht hören. Auch die Details des Unfalls, der ganz anders ablief und an einem Baum endete, an den Brecht seinen Wagen absichtlich steuerte, um einem entgegen kommenden Raser auszuweichen, der trotz Gegenverkehrs überholen wollte, sind sogar mit Fotos dokumentiert. Brecht war auf dem Weg nach Fulda, in Berlin galt das wohl als Thüringen damals. Die Quelle für alles: Das Uhu-Monatsmagazin. Zurück nun zu Franz Blei und Max Frisch.


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