Tagebuch

15. Januar 2021

Erstmals seit dem 24. November wieder mehr als 10.000 Schritte gestern, unter 7000 war ich nun schon fast drei Wochen nicht mehr: kein Wetter hält uns ab. Das Büchlein „Bei Goethe zu Gast“ lag  buchstäblich einige Wochen auf dem Fensterbrett, das Lesezeichen bei Franz Grillparzer, der 1826 ein Goethe-Gast war. 2016 schon las ich diese paar Seiten, auch die entsprechenden in Grillparzers Buch „Reisetagebücher“. Mehr als der gute Wille, den heutigen Geburtstag zu nutzen, um über die Begegnung zu schreiben, ist nicht herausgekommen. Das wird in den kommenden Tagen keinesfalls besser, fast täglich wären drei oder sogar vier Namen verlockend, Namen, die mir die Entscheidung alles andere als erleichtern. Bisweilen ist sehr viel Vorarbeit nötig, weil am Ende eine ganze Reihe von Texten herauskommen soll. Da der Schnee nicht nur liegen bleibt, sondern stetig Nachschub erhält, gibt es fröhliche Schaufelszenen auf den Mietparkplätzen, hässliche Geräusche inklusive.

14. Januar 2021

Ganz sicher bin ich mir nicht mehr, welchen Titel von Kurt Guggenheim ich als ersten kaufte, ich weiß aber genau, welchen ich als ersten las: „Heimat oder Domizil?“, einst als Heft 25 in der Kulturschriftenreihe des Artemis Verlages Zürich erschienen. Und als ich kürzlich diesen Mann 25 Jahre jünger machte, was mir zum Glück so früh auffiel, dass nur sehr wenige Leser den Fehler überhaupt sehen konnten, von denen wahrscheinlich noch viel weniger ihn als solchen erkannten, war mein Ehrgeiz rasch groß genug, zu seinem heutigen 125. Geburtstag ein paar Zeilen mehr zu schreiben. Es sind erstaunlich viele Zeilen geworden und fast alles, was ich brauchte, um sie zu schreiben, konnte auf verschiedenen Stapeln um mich liegen bleiben, weil es bald erneut gebraucht wird. Ich betreibe ein planwirtschaftliches Unternehmen, anders geht es gar nicht. Meine Hausärztin zieht, als ich ein Rezept hole, meinen Termin für nächste Woche vor: es gibt gleich zwei Rezepte.

13. Januar 2021

„Ich lag gerade im Garten und nahm ein Sonnenbad, als ich eine absonderliche Figur, den Panama schief auf dem Kopf, herankommen sah. Es war James Joyce. Hinter ihm stapfte sein Sohn George, gefolgt von Lucia, die an ihren Zöpfen zupfte. Seine Frau Nora beschloss den Zug.“ Die sich so erinnert, ist Claire Goll, zuvor Claire Studer, zuvor Klara Aischmann. Man kann dies und vieles in ihrem Buch „Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique scandaleuse“ nachlesen. Die Figur mit dem schief sitzenden Hut ist heute vor 80 Jahren gestorben. Wenn ich den Kopf hebe, um über meinen alten Drucker hinweg zu schauen, sehe ich sechs graue Bände aus dem Verlag Volk und Welt, sie tragen die mehr oder minder hübschen Titel „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“, „Stephen der Held“, „Dubliner“, „Ulysses“ (2 Bände) sowie „Ausgewählte Schriften. Nachlese“. „Finnegans Wake“ fehlt, wenngleich nicht mir. Mein Ehrgeiz, mitreden zu können, ist gleich Null.

12. Januar 2021

Wer Ullrich heißt, kommt in alphabetisch sortierten Büchern meist sehr weit hinten. In diesem Buch kommen noch zehn Beiträger nach mir und wer sich für das Buch interessiert, hat außerdem Pech. Es handelt sich um die Taschenbuchausgabe eines nur in einem einzigen Exemplar gedruckten Buchs mit dem Titel „Es fand sich schließlich Christoph Links – dann ging’s“. Als Kritiker würde ich sagen: es gab schon handlichere Titel. Aber das ist in diesem Fall völlig überflüssig. Im Buch bin ich ein Fremdkörper, nur entschuldbar, weil ich bei Christoph Links auch ein Buch machte. Wir kannten uns schon 15 Jahre, als er mit seinem Verlag begann. Die Bücher „Lienhard und Gertrud“ sowie „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ standen im ältesten Regal meiner Eltern in der schmalen Kammer, sie erschienen nicht bei Links, waren dafür in grobes Ganzleinen gebunden. Ihr Verfasser: der Schweizer Heinrich Pestalozzi, heute vor 275 Jahren geboren. Und meine Mutter hieß Gertrud.

11. Januar 2021

Wer, weil er wie ich Zeit und Muße dazu hat, einschlägige Feuilletons durchgrast und insbesondere Literaturkritiken für sein Archiv sucht, stößt auf das Phänomen einer ungewöhnlichen hohen Quote an kanadischen Autoren sämtlicher Geschlechter und Hintergründe, also beispielsweise auch solche, die kanadisch-haitianisch genannt werden. Es macht rasch Klick angesichts solcher Phänomene, denn Kanada wäre im Oktober 2020 das Gastland der Frankfurter Buchmesse gewesen. Weil diese aber ausfiel, also virtuell-digital daherkam ohne Gedränge und Empfänge mit Schnittchen, blieb ein Überhang an vorinvestierter Kritiker-Energie, die nun ihre Ergebnisse über die Wochen streuen darf. 2021 soll Kanada abermals Gastland sein, diesmal tatsächlich, falls bis dahin alle geimpft sind und alle Herden Immunität erreichten. Ob die Verlage zweimal hintereinander Ausnahmezustand zu spielen bereit sind, Motto Kanada First, bleibt abzuwarten, Ahornsirup-Rezepte gehen wohl immer.

10. Januar 2021

Die Suche nach Werken von Carl Ehrenstein ist rasch beendet. Da gab es 1913 die „Klagen eines Knaben“ als Band 6 der nach einigen Zwischenhochs am Expressionismus-Markt wieder fast bezahlbaren Reihe „Der jüngste Tag“. Dann gab es 1921 noch die „Bitte um Liebe“, mit dem Nachwort von Bruder Albert Ehrenstein, das wiederum in dessen großer Essay-Sammlung der Werkausgabe fehlt. In der Briefsammlung darf man dafür einige Bruder-Briefe nachlesen, nicht aber die Antworten. Als Carl Ehrenstein vor 50 Jahren starb, kannte ihn niemand mehr. Mit dem ersten amerikanischen Literatur-Nobelpreisträger steht es besser. Sinclair Lewis starb zwar vor 70 Jahren, sein ins Deutsche übersetztes Werk konnte man aber diesseits und jenseits der gemauerten Demarkationslinie in etlichen Bänden lesen, in der DDR nahmen sich der Kiepenheuer Verlag und vorher der Paul List Verlag seiner an, „Babbitt“ erschien sogar in der „Bibliothek der Weltliteratur“.

9. Januar 2021

Der Landkreis Saalfeld-Rudolstadt hat seinen gestern erstmals eroberten Podestplatz für die Corona-Hotspots erfolgreich verteidigt, nur der Landkreis Meißen ließ sich nicht von der Spitze verdrängen. In der Hoffnung, dass Pakete das Virus nicht übertragen, nahm ich gestern eine Buch-Lieferung der Thalia-Buchhandlung in Rudolstadt in Empfang, die für später angekündigte Rechnung war natürlich eher da als das Buch. Rund dreieinhalb Jahre brauchte ich zwischen 2008 und 2011, ehe ich endlich mit der dicken Biographie „Goethe. Sein Leben und seine Zeit“ von Richard Friedenthal zu Ende kam. Derartige Bücher benutze ich so lange, bis ich dann irgendwann beschließe, sie nun doch systematisch zu Ende zu lesen. Das Schöne an den Goethe-Wälzern aller Stärken ist, dass ich sie tatsächlich immer wieder brauche und gute Freunde bringen mir aus ihren Altbeständen bisweilen feine Raritäten. Richard Friedenthal wurde heute vor 125 Jahren geboren.

8. Januar 2021

Ertappt: erst als ich gestern meine beiden neuen Ausdrucke zum alten Armin-Stolper-Bestand tun wollte, sah ich, dass am 20. Januar 1989 bereits einmal ein Beitrag von mir über ihn gedruckt erschienen ist. Ich werde mir Abbitte leisten, indem ich am 20. Januar selbigen alten Text neu in die weite Web-Welt streuen werde. Heute ziehe ich den 100. Geburtstag von Leonardo Sciascia dem 125. Todestag von Paul Verlaine vor. In beiden Fällen stehe ich als Experte sicher nicht auf dem Treppchen. Das „Bücher-Magazin“ 2 für Februar/März 2021 steckt heute schon im Briefkasten und hat so die wunderbare Eigenschaft, zu spät und zu früh zugleich zu kommen zum 100. Geburtstag von Patricia Highsmith am 19. Januar. Wiederentdeckt wird angeblich der Roman „Lehrjahre der Männlichkeit“ von Gustave Flaubert, was insofern Unfug ist, als lediglich eine neue Übersetzung der guten alten „Education Sentimentale“ beworben wird, schrecklich lange vor Flaubert 200.

7. Januar 2021

Nun ist auch Armin Stolper zu einem abgeschlossenen Sammelgebiet geworden: Wie erst jetzt bekannt wurde, heißt es da traditionell. Neues Deutschland in Form von Hans-Dieter Schütt gedenkt seiner mächtig, die Junge Welt braucht etwas länger, der Wikipedia-Mitarbeiter brandohund hat auf der arg dürftig informierten Seite immerhin bereits das Todesdatum 17. Dezember nachgetragen. Meine Stolper-Bücher sind ihrer etliche, dennoch nehmen sie wenig Platz ein, weil sie alle dünn waren. Es gab Jahre, da kam man mit einem Stolper-Buch noch nicht richtig nach Hause, da lag schon das nächste in der Buchhandlung: Sie lagen immer, nachfragen musste man nie. Nach der von ihm als Übergang in die Unkultur fixierten Wende belieferte er vor allem den spotless-Verlag, bei dem lange Klaus Huhn den Hut aufhatte, der unter dem Pseudonym Klaus Ullrich über Sport schrieb in der DDR und später aktive Geschichtsklitterung betrieb, wie Karl Wilhelm Fricke meint.

6. Januar 2021

Ob die drei unbegleiteten jungen Könige mit den seltsamen Königsnamen Caspar, Melchior und Balthasar eigentlich auf dem Weg zu ihrem verabredeten Gummiboot an der Küste Libyens waren, als sie an jenem Stall vorbeikamen, über dem ein Sternlein leuchtete, ist nicht sicher überliefert. Jedenfalls schauten sie hinein und alles andere ist bekannt. Am 6. Januar 1941 starb in Sanary-sur-mer Franz Hessel, gesundheitlich irreversibel geschädigt nach seiner Internierung in einem der südfranzösischen Lager, in denen auch andere deutsche Emigranten eingesperrt waren. Zehn Jahre davor wurde E. L. Doctorow geboren, von dem jedes neue Buch gefeiert wurde, solange er lebte. Kaum war er tot, ebbte das feuilletonistische Interesse an ihm heftig ab. Als Franz Kelleter für Kindler Kompakt die „Amerikanische Literatur. 20. Jahrhundert“ auszuwählen hatte, entfiel ihm Doctorow völlig, von dem sogar die DDR Notiz genommen hatte: ohne Marktdruck aus den USA.

6. Januar 2021

Ob die drei unbegleiteten jungen Könige mit den seltsamen Königsnamen Caspar, Melchior und Balthasar eigentlich auf dem Weg zu ihrem verabredeten Gummiboot an der Küste Libyens waren, als sie an jenem Stall vorbeikamen, über dem ein Sternlein leuchtete, ist nicht sicher überliefert. Jedenfalls schauten sie hinein und alles andere ist bekannt. Am 6. Januar 1941 starb in Sanary-sur-mer Franz Hessel, gesundheitlich irreversibel geschädigt nach seiner Internierung in einem der südfranzösischen Lager, in denen auch andere deutsche Emigranten eingesperrt waren. Zehn Jahre davor wurde E. L. Doctorow geboren, von dem jedes neue Buch gefeiert wurde, solange er lebte. Kaum war er tot, ebbte das feuilletonistische Interesse an ihm heftig ab. Als Franz Kelleter für Kindler Kompakt die „Amerikanische Literatur. 20. Jahrhundert“ auszuwählen hatte, entfiel ihm Doctorow völlig, von dem sogar die DDR Notiz genommen hatte: ohne Marktdruck aus den USA.

5. Januar 2021

Der 100. Geburtstag von Dürrenmatt ist fast schon wieder vorbei, ebenfalls der 90. von Joachim Knauth, der immerhin auch Dramatiker war, wenngleich nicht annähernd mit der Wirkung des Schweizers. Interessant, wenn Zeit gewesen wäre, für mich an diesem Tag: Andrej Platonow, der vor 70 Jahren in Stalins Sowjetunion starb. Als ich dieser Tage den Bestand sichtete, den mein Archiv zu ihm enthält, stieß ich auf einen skandalösen Umstand: den der deutsch-deutschen Rezeption eines modernen Klassikers der russisch-sowjetischen Literatur: Mehr Ignoranz, mehr Ahnungslosigkeit, mehr dreistes Verschweigen dessen, was in der DDR zu und für Platonow geleistet wurde, ist kaum vorstellbar. Noch 20 und mehr Jahre nach der Einheit Deutschlands bejubelt das Großfeuilleton, das westlich ist und bleibt, das Erscheinen von Büchern, die in der DDR längst da waren, Urmutter des falschen Jubels an der falschen Stelle war Ilma Rakusa 1990.


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