Tagebuch

28. Juni 2020

Man bekommt, wenn man brav mit Maske eingetreten ist, von maskierten Frauen einen Platz in der „Altdeutschen Bauernstube“ in Königsee angewiesen, obwohl man nicht vorbestellt hat. Man speist wie in besten Zeiten sehr gut, geht maskiert aufs Klo und wieder raus. Draußen wartet man auf die maskierte Gattin und zu Hause erfreut man sich am zweiten Scheitern des Hamburger Sportvereins beim Versuch, wieder in die Erste Bundesliga zu kommen. Bremen darf gegen Heidenheim spielen, ich weiß nicht, wie viele meiner leiblichen Verwandten in Heidenheim in Aufstiegsvisionen vor sich hin schwelgen. Zum Abend schauen wir einen sehr langen Film mit sehr vielen Superschauspielern in zum Teil nur winzigen Nebenrollen, in den Hauptrollen ein gewisser Orson Welles und ein gewisser Gert Fröbe, die man immer wieder sehr gern sieht. Jean-Louis Trintignant war diesmal kein wildes Schaf, sondern ein böser Verräter. Gott liebt den Verrat, aber nicht die Verräter. Oder so.

27. Juni 2020

Pflichtgemäß hat Borussia Dortmund sein letztes Heimspiel saftig verloren und somit der ohnehin längst feststehenden achten Meisterschaft von Bayern München in Folge den nötigen zweistelligen Vorsprung verschafft. Würde Bayern nur knapp Meister, wäre es irgendwie peinlich, obwohl in dieser Saison selbst Bayern-Fans hofften, es mögen diesmal andere sein, die mit der Schale hüpfen. Nunmehr ist es endgültig klar: die Erste Bundesliga trägt mit 18 Mannschaften einen Wettbewerb um die Vizemeisterschaft, die Abstiege und ein bisschen auch die internationalen Plätze aus. So schlecht ist das nicht, nur das Wechseln der jeweiligen Meister-Trainer müsste noch irgendwie geregelt werden, denn nicht jeder langweilt sich nach drei Spielzeiten wie Pep Guardiola, der endlich auch einmal Jürgen Klopp gratulieren wollte. Wir sitzen mangels Fernsehprogramm den zweiten Abend in Folge auf unserem blumenreichen Duftbalkon bei Wein und einer Einzelkerze.

26. Juni 2020

Natürlich ist es kein Zufall, wenn ich heute nach leichter Kletterübung das Foto-Album von unserer ersten Ischia-Reise vom Schrank hole. Ich suche die Bilder aus Positano, elf sind es, und finde sie im zweiten Band. Davor Sorrent, wo wir das Intarsienbild vom Vesuv erwarben, danach Amalfi mit Kurzhalt oberhalb der Smaragd-Grotte. So waren sie eben, die Tagesausflüge zur Amalfi-Küste. Es war der 29. März 1994, wir sind seither nie wieder dort gewesen. In Positano aber lebte einer der Lieblingsdichter des Alt-Westens, dem auch der Alt-Osten ein paar Bände gewidmet hatte, vor allem in den christlichen Verlagen. Am 26. Juni 1906 ist er nahe Trier geboren, am 29. Juni 1970 starb er im Krankenhaus in Rom an einer Embolie nach einer an sich harmlosen Operation: Stefan Andres. Sein „El Greco malt den Großinquisitor“ besitze ich viermal: in zwei Andres-Bänden und in zwei Anthologien. Der „Volksfreund“ in Trier gedachte vorsorglich schon gestern des Todestages.

25. Juni 2020

Der neue Holunder ist farbig und duftet wild vor sich hin, er verwandelt sich heute in sieben kleine Gläser und damit ist das Holunder-Thema abgearbeitet. Ich sitze von früh bis spät am alten Hans Marchwitza, weil der ins Netz soll und das gelingt mir auch. Die Post bringt mir ein Buch zum 70. Geburtstag von Georg Lukacs, der war 1955 und ist folglich schon eine Weile her. Vor 15 Jahren wechselten wir vom hohen Südtirol ans untere Ende der Weinstraße nach Kurtinig. Unser Zimmer war ganz oben im Hotel, mit einem winzigen Balkon, der zum Weintrinken eben so ausreichte und viel mehr hatte er auch nicht zu leisten in der beginnenden Woche. Im nächsten Dorf schon spricht man nur italienisch, die DOC für den Wein ist Trentino, wir bevorzugen unter den roten Teroldego Rotaliano und daran hat sich bis heute nicht revolutionär viel geändert. Wir kennen nur mehr, weil wir ständig probieren und das ein wenig über dem Durchschnitt liegende Weingedächtnis haben.

24. Juni 2020

25 Jahre ist es her, dass ich, ein Vater mittlerer bis schlechter Präsenz in den jungen Jahren seiner zahlreichen zwei Kinder mit diesen beiden gemeinsam und ohne die zu uns allen gehörige Mutter-Gattin gen Venedig reiste. Es war, wie man so sagt, das Urerlebnis Venedig. Wir wohnten unweit des Markus-Platzes, wir hatten ein unfreundliches Hotel und waren trotzdem sehr froh, da zu sein. Später speisten wir gelegentlich in just diesem Hotel-Restaurant, wenn wir in Venedig waren, die Idee, dort zu wohnen, kam uns nie. Die Renormalisierung des Alltagslebens führt dazu, dass wir heute bereits den zweiten Fußpflegetermin nach neuer Zeitrechnung haben, ich wandere wie immer in der Gegend herum, wenn ich fertig bin, es gibt auch wieder die guten Landeier im Kühlschrank mit Selbstbedienung und Kasse des Vertrauens. Es sind die Kleinigkeiten, die das Leben machen, wie es angenehm ist. Der Holunder von gestern füllt heute zehn kleine Gläser und wir haben neuen.

23. Juni 2020

Mathematik-Professor muss man natürlich nicht sein, um auf die Idee zu kommen, dass nach 70 auch noch die 106 käme, die 115 und, das hätte Reife fürs Guiness-Buch der Rekorde, die 124, die die Quersumme 7 aufweisen. Ich halte das fest und werde, wenn ich 2023 meine persönlich-privaten 70 erreiche, natürlich all meine Hoffnungen auf das Jahr 2059 richten, welches meinen 106. Geburtstag mit sich brächte. Ich werde dann auf keinen Fall mehr meinen Geburtstagswein aus der Wachau selbst aus dem Keller holen. Mein dann 75 Jahre alter Sohn sicher auch nicht. Offen ist auch, ob uns dereinst noch jener Holunder-Gelee schmecken wird, für den wir heute nach langer Periode schlechten Holunderblüten-Wetters die Aroma-Basis ernteten an den Teichgewässern von Oberpörlitz. Vor 15 Jahren las ich 29 Seiten von Friedrich Schiller über Moses in den höheren Lagen Südtirols, wie sahen die Churburg. Für zu Hause die ersten sechs St. Magdalener eingepackt.

22. Juni 2020

Verleger Christoph Links, als er noch weit davon entfernt war, ein Verleger zu sein, sprach eines schönen Tages zu mir, er hatte eben ein wenig von Helga Schubert gelesen: „Jetzt verstehe ich, dass Du sie magst.“ Ich mochte sie tatsächlich, als ich „Lauter Leben“ gelesen hatte, 1975 als ihr erstes Buch im Aufbau-Verlag erschienen. Natürlich gesellte sich „Blickwinkel“ zum Erstling und dann folgte „Judasfrauen“. Sie gehört zum Jahrgang 1940, dem ich ein Buch widmen wollte. Mit „Die Andersdenkende“ schloss ich das Sammelgebiet Schubert für mich ab. Und nun sehe ich in der BERLINER ZEITUNG ihr Porträt, verbunden mit der Information, sie trete beim Wettlesen in Klagenfurt an, und nun lese ich, dass sie sogar, mit ihren 80 Jahren, den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, den sie vielleicht schon 1980 gewonnen hätte, wenn die kleine DDR sie hinaus gelassen hätte. Ein 70. Geburtstag führt mir vor Augen: danach kommt nie mehr Quersumme 7 im Leben.

21. Juni 2020

Dies wäre der 98. Geburtstag meines lieben Schwiegervaters Alexander geworden. Als wir gestern beim Griechen in Gehren feierten und seiner gedachten, dachten wir an Ess-Gewohnheiten von Großvätern, die unterschiedlicher nicht sein konnten, neugierig und wagemutig der eine, immer am glücklichsten mit einem Schnitzel der andere. Meine Kinder hatten das Glück, zwei Großväter zu haben, meine Enkel haben es auch. Zwei hatte auch ich, nur war halt einer im Westen, also hinter dem Mars. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Opa Alex aber, als er noch konnte, lobte meinen Tee, den ich damals noch aus Bremen bezog in immer neuen Variationen, inzwischen bin ich bei drei Sorten, die ich wechselweise trinke, gelandet. Erstmals nach längerer Pause heute wieder ein Fußgang: wir sahen ein fürwitziges schwarzes Eichhörnchen, angeblich verdrängen die unsere fuchsroten, wir sahen blühende Seerosen. Und ich schrieb den ganzen Tag an Walter Hasenclever.

20. Juni 2020

Es wird Zeit, eventuelle Exilorte zu suchen, Auswanderungspläne zu konkretisieren. Der Wahnsinn hat inzwischen auch die Berufsgruppe der Philosophen erfasst. Bis dato unbekannte Chargen aus bis dato eher unauffälligen Universitätskreisen erörtern die Frage, ob man Kant, also nicht den Ost-Hermann, sondern den Fernost-Immanuel, zu den Rassisten zu schlagen habe, was in der Folge bedeuten würde, dass sämliche Kantianer, dann die Neukantianer und alle, die nicht bei Drei auf den Fluchtbäumen sitzen, der öffentlichen weltlichen Exkommunikation unterzogen werden. Wenn ein ziemlich rabenschwarzer Mann darauf hinweist, dass Rassismus nicht nur Juden, sondern auch Schwarze traf, fällt das seit kurzem unter Holocaust-Verharmlosung und damit Antisemitismus. Es fehlen uns in Dumm-Deutschland nur noch Kerle mit den spitzen weißen Hüten. Und allen Ernstes behaupten Menschen, es sei keinesfalls mit DDR-Gesinnungsdiktatur zu vergleichen. Zum Kotzen.

19. Juni 2020

Am 19. Juni 2005 erwachten wir nach einer ersten Nacht im eiskalten Haus in Reschen/Südtirol und freuten uns, nicht erfroren zu sein. Die Vermieterin hatte eigens für uns, die wir aus dem Engadin anreisten, das Haus eine Woche vorzeitig geöffnet, es dauerte folglich, bis sich alles so weit wieder erwärmte. Immerhin hatten wir einen Blick auf den besonnten Ortler hinter uns, als schon der Mond am Himmel stand, auf dem Balkon war es warm genug, dort Rosé zu trinken und ein Büchlein zum „Don Carlos“ zu Ende zu lesen. Ich führte auch die „Schiller-Debatte 1905“ mit mir, später sprach ich vor erstaunten SPD-Frauen darüber, mit welchen Themen sich ihre seltsame Partei so hundert Jahre früher befasste. Schiller – da denken gute Sozialdemokraten allenfalls an Karl Schiller, also nicht den aus den Räubern. Ich pendle zwischen Walter Hasenclever und Stephan Hermlin, es gibt letzte Absprachen für morgen, da wir zum Geburtstag geladen sind an zwei verschiedene Orte.

18. Juni 2020

Man täuscht sich: ich hätte gewettet, dass mein erster und einziger Artikel zu Angela Davis eine Antwort auf eine fingierte Leserfrage war. Er war aber die Antwort auf eine fingierte Wählerfrage. Die bezog sich auf den bevorstehenden Prozess gegen Angela Davis und ich beantwortete die von niemandem gestellte Frage mit einem Fünfspalter 100 hoch unter der Überschrift „Angela 365 Tage im Kerker“. Mein Beitrag enthielt den Hinweis auf eine DFF-Sendung spät 22.25 Uhr im ersten Programm, Titel „Angela – Porträt einer Revolutionärin“. Heute schaut sie mir auf der Frontseite von „der freitag“ entgegen, nicht jünger geworden in den knapp 49 Jahren seit meiner Warnung vor den nicht gebannten Gefahren eines Justizmordes. Mein damaliger Beitrag erschien zufällig am 16. Geburtstag meiner lieben Gattin, die ich bis dahin zwar schon immer mal sah mit ihrer Ellen und ihren ellenlangen blonden Haaren, es dauerte aber noch dreieinhalb Jahre bis zur Teambildung.

17. Juni 1953

Da ist er nun wieder, der verloren gegangene Nationalfeiertag des Westens, an dem man dort, wo immer es ging, des so genannten Volksaufstandes in der DDR gedachte, an dem das Volk in sehr weiten Teilen gar nicht beteiligt war. Das Volk ist generell selten an Aufständen beteiligt, was sich in Sonntagsreden freilich anders darstellt. Am 17. Juni 1953, man kennt die Bilder aus unzähligen Wiederholungen im Fernsehen, sausten zahlreiche junge Männer mit Westfrisuren, Westhosen und Westhemden durch Ostberlin, gern zeigt man das Berolina-Haus und den brennenden HO-Kiosk, der das System ungefähr so symbolisierte wie ein Heimelektronik-Laden in den USA den alltäglichen Rassismus ringsum. Vermutlich die Volksdarsteller. An jenem 17. Juni 1953 warfen in Magdeburg Angehörige des Volkes das neue Buch von Stephan Hermlin aus den Fenstern der Druckerei und zündeten es an, angeblich fast die komplette Auflage. Ein Exemplar besitze ich.


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