Tagebuch

22. August 2020

Natürlich habe ich „Fahrenheit 451“ gelesen, mein erschöpfliches Archiv enthält vier Typoskript-Blätter ohne Datum, vermutlich im Februar 1980 geschrieben, da steht das Buch nämlich im Register. Die Blätter enthalten ausschließlich Zitate, keine Kommentare, das war noch die alte Arbeitsweise. Ray Bradbury wäre heute 100 Jahre alt. Seinen 90. Geburtstag erlebte er noch, das Finale der DDR natürlich auch, aber ob es ihn interessiert hat? Sie verabschiedete sich von ihm mit dem Druck von „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ 1989 und die Kritiker sahen etwas wie einen Krimi darin, aber mehr und besser. „Fahrenheit 451“ nennt man heute einen Dystopie-Klassiker, was viele erst nachschlagen müssen, denn nur in Kreisen gehobenen Geistes geistert das Wort wie ein echter Geist. Auch Wolfdietrich Schnurre hätte heute seinen 100. Geburtstag. Vermutlich kannte er Bradbury eher als dieser umgekehrt ihn. Macht aber nichts, tot sind sie nun längst alle beide.

21. August 2020

Wenn auf einem Foto drei junge Menschen zu sehen sind, nebeneinander, dann steht einer links, einer in der Mitte und einer rechts. Man kann allenfalls noch anmerken: vom Betrachter aus gesehen. Wenn der rechts Stehende Walter Ulbricht heißt, dann steht er in der Bildunterschrift nicht rechts, wie NEUES DEUTSCHLAND gestern unnachahmlich vorführte, sondern er ist der dritte von links. Ulbricht war offenbar ein sehr kleiner Tischlerlehrling mit sehr großen abstehenden Ohren. Über das Buch des Urenkels über seinen Urgroßvater äußerte sich Egon Krenz, den die Aktivisten von 1989 nicht mit großen Ohren, wohl aber mit großen Zähnen auf ihren Plakaten verunewigten. Ich, der ich einmal fast auf den Zehen von Egon Krenz stand in Schwerin und er wollte mein Gedicht nicht beklatschen, bin nicht nachtragend. Ich bin überrascht, dass man es gut finden kann, wenn ein Buch über Ulbricht 1945 endet. Mein Ulbricht starb 1973 und Lotte lebte.

20. August 2020

Einstweilen muss ich, des heutigen 75. Todestages von Alexander Roda Roda gedenkend, auf meine nun auch schon wieder fünf Jahre alte Befassung mit diesem unvergleichlichen Mann verweisen, der Herrlichkeiten aus seiner Feder wird kein Ende, wenn man seine Bücher einmal in die Finger bekommen hat. Ich habe mir jüngst wieder „Die Kummerziege und andere Dienstbotengeschichten“ aus dem Regal gezogen und freue mich, wenn sich ein Zeitlückchen findet, die nächste Geschichte zu lesen. Natürlich kennt man das alles, das mit den Dienstmädchen und den Verführungen und den unehelich geborenen Kindern, man meint gar, dies hätte sich ausschließlich in der Donaumonarchie abgespielt oder abspielen können: weit gefehlt. In Berlin war das nicht anders als in Wien: nur hat es dort niemand so schön aufgeschrieben. Gestorben ist Roda Roda in New York im Alter von 73 Jahren. Da wäre mehr möglich heute, wo die seltsamsten Figuren einfach nicht sterben wollen.

19. August 2020

Bayern schlägt zurück. Nachdem es lange so ausgesehen hatte, als wäre nicht nur der FC Bayern auf immer und ewig Meister, sondern der gesamte Freistaat hielte bis zum Jüngsten Gericht über die Kanzlerkandidatur den Spitzenplatz bei den Covid19-Infektionen, kam plötzlich wie aus dem Nichts Nordrhein-Westfalen gestürmt. Hot Spot um Hot Spot im Westen des Landes ließen mit den tagelang deutlich höchsten Neuinfektions-Zahlen den klaren Abstand zu Bayern auf der ewigen Bestenliste immer geringer werden, dann kam der Tag des Überholens, der zugleich der Tag des Auftakts einer beispiellosen Jagd um die Vergrößerung des neuen Vorsprunges wurde. Heute nun, die Gesamtzahlen steigen, so dass für alle genug bleibt, endlich wieder Bayern mit der höchsten Zuwachsrate. Da gerät beinahe in vollkommene Vergessenheit, dass heute vor 150 Jahren Theodor Fontanes erste Theaterkritik in der „Vossischen Zeitung“ stand, Schillers „Wilhelm Tell“ gewidmet.

18. August 2020

Das Goldene Buch der Katastrophen vermerkt für den 18. August 1993 den Brand der Luzerner Kapellbrücke. Als wir 1996 erstmals Luzern besuchten, war die Brücke längst wieder aufgebaut und für Fußgänger freigegeben. Wann immer wir in der Nähe waren, besuchten wir Luzern, liefen über die Kapellbrücke in beiden Richtungen und fotografierten die gleichen Motive. 100 Jahre alt würde heute Shelley Winters, die Dame für die Nebenrollen-Oscars, die 1972 in „Die Höllenfahrt der Poseidon“ so lange tauchte, dass man noch heute gar nicht glauben mag, sie hätte es weitgehend ohne Double getan. Am 18. August 2000 lockte mich die mir angetraute Gattin zwecks vollkommen neuer Gestaltung unseres Wohnzimmers zu einem großen, in Ilmenau ansässigen Möbelhaus, wo wir uns einen perfekt allen Platz ausnutzenden Entwurf dessen erstellen ließen, was heute immer noch das Wohnzimmer ausmacht. Gut, dass es Tagebücher gibt, ich hätte es sonst einfach vergessen.

17. August 2020

Argentinien, Indonesien und Gabun feiern heute ihre nationalen Feiertage, was ihnen gegönnt sei, auch wenn es, nüchtern betrachtet, in ihren Breiten wenig zu feiern gibt. Aber auch wir feiern ja, wann immer es geht und notfalls sogar ohne Maske, damit die Jungs und Mädels bei Robert Koch und in den Gesundheitsämtern nicht lethargisch werden in der Routine der sinkenden Zahl. 2002 erreichte der Pegelstand der Elbe in Dresden seinen historischen Höchststand, wir schauen uns gelegentlich die Markierung an verschiedenen Stellen an und sind immer neu sprachlos. Christian Kohlund wird heute 70 Jahre alt und darf sich freuen, dass er im Zürich-Krimi noch einmal eine hübsche Rolle gefunden hat. Geburtstag hat heute auch Herta Müller, das Alter musste Donald Trump in seinem Intelligenztest errechnen, er bekam dafür einen heißen Tipp: die Dame sei 1953 geboren wie dieser Ullrich, der in seinem Tagebuch immer mal gegen den Präsidenten stichelt.

16. August 2020

Es war Manfred Warnecke, mein leider nicht mehr unter den Lebenden weilender Studienfreund aus Berliner Zeiten, den wir eines Tages nicht mehr Wanze nennen sollten, sondern Fussel, woran wir uns gewöhnten, der mich mit der Nase auf Charles Bukowski stieß. Es hat wenig geholfen: ich bin bis zum heute allfälligen 100. Geburtstag von Bukowski nicht unter seine Fans gefallen. Dennoch halte ich es für gut möglich, wenn im kommenden Jahr der gute alte Dante 700 Jahre tot ist, sein „Gedicht für Dante“ zu zitieren: „Dante, Baby, das Inferno / ist hier und jetzt.“ Heißt es zweimal dort und es endet: „du solltest uns jetzt mal sehen.“ Möglicherweise verfällt man ihm, wenn man sich ihm ein bisschen ausliefert. Möglicherweise gefallen einem bestimmte Gedichte, die einem bisher immer gefielen, auf einmal nicht mehr. „Ich schreibe nicht, weil / ich etwas besser weiß.“ Steht in einem anderen Gedicht. So ähnlich sagt es auch Schnurre, der nur ein paar Tage jüngere.

15. August 2020

Mein Anzeigenblatt verrät mir heute, dass es inzwischen Thüringer Bratwürste für Veganer gibt und für Vegetarier auch. Das freut mich für diese Menschen. Ich hoffe, es werden demnächst auch grunzende Eisbergsalate und Methan furzende Möhren in die Regale unserer Supermärkte gelangen. Die Post erfreute uns heute mit einer Botschaft aus dem Finanzamt: von wegen Home-Office, die haben doch tatsächlich gearbeitet. Aus dem Großraum Berlin erreichen uns fröhliche Sonnen-Fotos, während wir gestern erstmals zu Balkonflüchtern wurden und heute aus gleichen Grundursachen unsere Handtücher nicht auf die Leine hängten. Boden und Landschaft sowie ihre natürlichen Lobbyisten in der Bevölkerung freuen sich: in kurzer Zeit alle Fässer voll. Das Volk der Laufenten verspeist ganze Würmerfamilien, die ihre überfluteten unterirdischen Gänge auf der Flucht in den Tod verlassen. Was mit den Nacktschnecken passiert auf den Radwegen, verschweige ich dezent.

14. August 2020

Langes Baby-Schreien begleitete unseren gestrigen Balkon-Abend bei leichtem Höllmüller-Riesling mit zwei Kerzen, dabei eine katholische aus dem Jahr 2010, pastorales Geschenk für mich nach dem Unfall auf der Autobahn. Die ausdauernde Windstille lässt die Flämmchen gerade stehen, kerzengerade fast. Brecht-Todestag und Strittmatter-Geburtstag erinnern an intensivere Zeiten des Umgangs, derzeit sind andere Felder weit und verlockend. Heute kommt mein Wunschtischler, die Maße abnehmen für ein Hängeregal, welches nach den Worten der Frau an meiner Seite nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein sein wird, was ich nicht bestreiten kann. Es sind schon vage Überlegungen zwischen uns, nach einem Archivraum zu suchen, der mein Arbeitszimmer entlastet. Da der aber wenig bis nichts kosten sollte, ist das kaum mehr als ein frommer Wunsch. Es gibt Weingüter, die versenden Steckbriefe ihrer Weine, um die Wartezeit bis zur Lieferung abzukürzen.

13. August 2020

Es hat uns tatsächlich ein Gewitter ereilt in Sohnstedt, wo wir gestern den ersten Saunatag des Jahres 2020 verbrachten, endlich die Gutscheine einlösend vom weihnachtlichen Gabentisch. Als wir nach Hause kamen, zwei Anrufe in Abwesenheit: der Schwager wegen des Familienfestes im kleinen Kreise, der Enkel von Arthur Eloesser mit der guten Nachricht der neuen Website. Noch zu später Stunde las ich kursiv, heute dann intensiv und ausführlich. Heute auch der Mann aus Erfurt, der unseren runden Tisch per ebay gekauft hatte und ihn nun abholte. Es wird ein wenig mehr Platz im kleinen Gästezimmer. Das ND bringt heute eine Kritik zu Marlen Haushofers Märchen-Trilogie „Der gute Bruder Ulrich“. Ich bin nach „Das Waldmärchen“ hängen geblieben, das Lesebändchen mahnt mich, das schmale Büchlein zu Ende zu bringen. Aber ich pendle noch zwischen Schnurre und Martin Stephan und abends ist ganz ungeplant ein kleiner Eloesser im Netz zur neuen Website.

12. August 2020

Dies ist nicht nur der Todestag von Thomas Mann (der 65.), sondern auch der von Lu Märten (der 50.). Die Fundus-Reihe des Dresdener Verlags der Kunst unternahm es vor mittlerweile fast 40 Jahren, sie der weitgehenden Vergessenheit zu entreißen, „Formen für den Alltag“ hieß das Buch, nicht leicht zu lesen, außerdem seltsame Kämpfe dokumentierend, die da Frauen untereinander austrugen (Gertrud Alexander gebärdete sich besonders heftig). Bei WIKIPEDIA findet sich die Falschbehauptung, ihre Bücher wären am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz unter den verbrannten gewesen. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass eines ihrer Bücher irgendwo in Deutschland den Flammen zum Opfer fiel. Nach 1945 arbeitete sie, in West-Berlin wohnend, für Ost-Berliner Verlage, seltsam genug. Nur für das Protokoll: Man kann auf Balkonen bei Wein und Kerzen auch gewichtige Entscheidungen treffen. Wir machen sie angelegentlich auch öffentlich.

11. August 2020

Nun hat mich der Walter Basan gestern so lange festgehalten, dass ich darüber den Martin Stephan ganz vergaß. Dabei war die Abschrift meiner alten Kritik von 1989 erfolgt, Korrektur gelesen, es fehlte nur der letzte Akt: die paar Zeilen meinen ALTEN SACHEN zuzufügen im Netz. Nun ist es zwar nachgeholt, aber immer noch falsch. Denn Martin Stephans 75. Geburtstag war gestern, wenn er denn noch lebt, so steht er auch in meinem Kalender. Mit der Erinnerung eines Schulfreundes aus alten Goetheschul-Zeiten, der mich einst fragte, ob ich Martin Stephan kenne, er hatte ihn irgendwo kennengelernt. Ich musste verneinen, sagte aber wohl, ich würde ihn gern kennenlernen. Seit 2002, soweit ich sehe, ist er aus dem öffentlichen Raum verschwunden, krank, tot, ich weiß es nicht. Da alle Vorarbeit dazu getan ist, werde ich noch ein paar Zeilen über sein erstes Buch „Schiffe gehen gelegentlich unter“ folgen lassen, das nach mehr als 40 Jahren immer noch Lesevergnügen bereitet.


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