Tagebuch

9. August 2020

Die Aufmerksamkeitsökonomie des sterblichen Menschen ist brutal und katastrophal: drei Tage machen den Unterschied, dass es „Hiroshima – mon amour“ und „Hiroshima“ gesungen gibt, noch die Sprengkraft neuer Bomben wird an der von Hiroshima gemessen, nicht an Nagasaki. So sind wir, es gibt nichts zu beschönigen. Deshalb auch rasch zur Tagesordnung: Nach Leberwurst und Schinken vom Strauß gestern - heute Straußenbratwurst, alles Premieren. Nur gebratenen Strauß kannten wir schon aus den entrückten Zeiten, als es in der Ilmenauer Marktstraße noch einen „Schwan“ gab, der freilich seinen Namengeber nie braten ließ. Wir tranken Dornfelder dazu, das habe ich vermutlich schon siebenmal erzählt oder aufgeschrieben, das ist das Privileg des Alterns. Die Straußensalami, die wir eigentlich erbeuten wollten gestern, gab es nicht, sie war ausverkauft, dafür war noch eine Flasche Eierlikör von Straußenei da, da rede noch einer diese Welt schlecht.

8. August 2020

Dreißig Jahre deutsche Einheit sind noch nicht ganz voll und es gibt immer noch erste Male. Am gestrigen Morgen meldete sich der Paketdienst UPS, um uns ein technisches Gerät zu liefern, welches wir gewöhnt sind, den „Insekten-Schröter“ zu nennen, seit wir es in Berlin kennen und schätzen lernten. Seine Nutzung schließt ein, dass man bestimmte Interviews nicht mehr geben kann, die die Standard-Frage „Töten Sie gelegentlich Insekten?“ enthalten. Dann schon lieber auf die Frage verzichten: „Kaufen Sie bei Amazon?“ Menschen, die beides nicht tun, sind die besseren Menschen, haben die Menschen beschlossen, die sich selbst stets für die besten Menschen halten. Heute dann ein sehr vertrauter Dienst, eine sehr vertraute Stimme, die gleich rät, die Kellerschlüssel mitzubringen. Es gibt Wein aus Joching. Er muss zu uns kommen, weil wir in diesem Jahr nicht zu ihm kommen. Ich habe fast die gesamte Palette der 2019er bestellt, sogar einen Müller-Thurgau.

7. August 2020

Wie kommt eigentlich Zigarettenasche auf mein Arbeitszimmer-Fensterbrett? Von oben, sagt das Gesetz der Schwerkraft, denn auch Asche ist, wenngleich in bescheidenem Maße, schwer genug, nicht nach oben zu fallen. Vogelkacke verhält sich da entschieden zielstrebiger und zeigt auch die klar bessere Standorttreue. Der Asche verhelfe ich durch zartes Pusten zu neuen Höhenflügen, die in diesem Fall einen Abwärtstrend verkörpern. Den Fallzahlen mit unserem Lieblingsvirus geht es eben gerade anders herum. Mach mich krank, mach mich krank, ich bin schon viel zu lange gesund, rufen unsere Freunde in Nordrhein-Westfalen, und werfen sich dem kleinen Feind an die schmale Brust. Wir sind wieder wer, sagen die Zahlen seit Mai erstmals wieder zwei Tage in Folge, und selbst in Luxemburg stirbt fast jeden Tag einer, was Berechnungen möglich macht, wann der letzte Luxemburger die Welt irdischer Drangsal verlässt, um das weitere Treiben von oben zu betrachten.

6. August 2020

Mein Leserbrief an den FREITAG ist zwar nicht gedruckt worden, dafür aber eine Berichtigung mit diesem schönen Bekenntnis: „Der Fehler passierte mehrere redaktionelle Instanzen und wiederholte sich auf der Bildebene. Wir können es uns nicht erklären und sind beschämt. Wir möchten uns bei den beiden Schriftstellerinnen sowie bei unseren Lesern und Leserinnen entschuldigen.“ Der ganze Rest an Betroffenen, die sich dieser schlichten Zuordnung entziehen, muss sehen, wie er damit umgeht. Man muss übrigens, um die Grausigkeiten des Krieges vor Augen zu bekommen, nicht unbedingt eine Uhr sehen, die in Hiroshima stehen blieb, als die Bombe explodierte, mir reicht eine Geschichte wie „Die Reise zur Babuschka“ von Schnurre, wo ein Deutscher, der einen russischen Hiwi mit Bauchschuss aus dem Feuer rettete, dabei selbst einen Lungenschuss bekam, gemeinsam sterben sie im Wagen, der sie zum Lazarett bringen soll, sie reden von der Babuschka, immer leiser. 

5. August 2020

Unser neu gestalteter Mülltonnen-Standplatz ist seit heute überdacht, es glänzt, weil es Glas ist und es hilft wohl verhindern, dass der Inhalt der Tonnen bei Regen nass wird (und damit schwerer). Das Schloss fehlt noch, das eigentlich schon längst eingebaut sein sollte, denn die Firma ist pleite und die Ersatzfirma auch schon wieder. So fliegen aus Thüringen Instrumente zum Mars, aber ein einfaches Schloss zu bekommen, kann Monate dauern. Der Auftrag, heißt es in eingeweihten Kreisen, wurde vor einem halben Jahr ausgelöst. Ich bin den ganzen Tag mit Walther Victor und Friedrich Engels beschäftigt gewesen, war zur Fußpflege, zu Fuß zum Essen in Unterpörlitz, was mir am Ende 2370 geschriebene Worte und 10.276 gegangene Schritte ins Stammbuch brachte. Wir sind mit der Organisation des 65. Geburtstages einer mir nahe stehenden Persönlichkeit weiblichen Geschlechts wichtige Schritte vorangekommen, Festort und Teilnehmer haben zugesagt, alles gut.

4. August 2020

Komisch, das: ich lese „Im Trocadero“ von Wolfdietrich Schnurre. Da steht auf der zweiten Seite: „Wir liefen ein Stück zusammen und redeten von den Wäldern bei Deutsch Krone und dem Dorf Stibbe, Kreis Schneidemühl, wo Wittigkeit her war.“ Vor einem Jahr hätte ich angerufen in Gehren, hätte meine Mutter gefragt. In ihrer Wohnung wohnt wieder jemand, aber anrufen geht nicht mehr seit dem 27. September. Immerhin: die Bücher sind nicht nach Sachsen-Anhalt gefahren, die von der alten Heimat. Ich könnte nach Stibbe suchen. Ob und wie Hermann Kesser und Erich Weinert einander wahrgenommen haben in ihrer Lebenszeit, weiß ich nicht: beider Geburtstag ist heute, Weinert ist der zehn Jahre jüngere gewesen. Wegen des Spanienkrieges interessiert er mich mehr. Dennoch müssen die entsprechenden Bücher warten. Weil dieser August eine Arbeitswoche kürzer ist, wenn nicht noch die dritte Reise des Jahres entfallen muss, noch freuen wir uns heftig auf sie.

3. August 2020

Wenn sich rechtsradikale Impfgegner mit lesbischen Verschwörungstheoretikerinnen verbünden, um Seite an Seite mit Trillerpfeifen-Gewerkschaftern, Hochradfahrern und Mitgliedern des Zentralrats der Lurchschützer vereinen, um gegen dies und jenes zu kämpfen, dann muss das in Berlin sein. Oder wahlweise aus Stuttgart angekarrt. Das Leben ist schön. Noch darf man annehmen, dass einer, der Nelson heißt, Nelson Mandela zum Vorbild hatte, wann aber schlägt die ganze Wahrheit zu: es war Nelson Müller? Oder war es Lord Nelson, der seinen Familiennamen nicht zeitig hatte schützen lassen in seinem Reichs-Patentamt? Wir dürfen, las ich eben von einem polnischen Historiker, nicht zulassen, die ganze Schuld am Holocaust Deutschland zu geben, auch wenn wir gern alle Schuld tragen, ein paar haben doch noch geholfen. Es ist genug Schuld für alle da, meint der Pole, und ich kann nicht sagen, dass es mir als Verharmlosung von irgendetwas erscheint. Eher als eine Wahrheit.

2. August 2020

Das Büchlein lag wochenlang auf einem Haufen von Büchern, die ich noch nicht wieder ins Regal stellte, weil ich glaubte, sie weiter oder gar zu Ende lesen zu können: einer der Irrtümer, denen ich am häufigsten unterliege. Nun aber las ich es: 130 kleine Seiten gestern und heute und es schien, als hätte ich es tatsächlich noch nicht gekannt. Doch mein Register ist zuverlässig: als Titel 201, 1965 gelesen, finde ich es: „Der beste Freund. Friedrich Engels, sein Leben und sein Werk“. Von Walther Victor. Ich gebe zu, dass man im Jahr des 200. Geburtstages von Engels gewichtigeren Quellen Vertrauen schenken könnte, doch las ich es nicht als Quellenwerk. Wozu auch? Ich habe vermutlich mehr originale Seiten Engels in den blauen Bänden der Werkausgabe gelesen, als die meisten, die in diesem und schon im vorigen Jahr so taten als ob. Der erste Abend im Wohnzimmer nach so vielen Balkon-Abenden bringt uns den ersten Nik-Tschiller-Tatort, den wir kannten und vergessen hatten.

1. August 2020

Wenn bestimmte Namen immer wieder zitiert werden, tritt irgendwann der Übersättigungseffekt ein: der Eindruck entsteht, man wüsste alles von diesen Menschen, obwohl man von ihnen nichts weiß. In diesem Fall rede ich von mir und Pierre Bourdieu, der heute 90 Jahre alt würde, wäre er nicht am 23. Januar 2002 schon gestorben. Von ihm gibt es eine winzige Schrift, vier Druckseiten nur, die heißt „Der Rassismus der Intelligenz“. Man müsste sie als Postwurfsendung allen in die Briefkästen schieben, die dauernd und im Brustton ihrer Überzeugung auf Rassisten eindreschen. Bourdieu spricht von Rassismen, also Plural: „Alle Rassismen sind sich gleich.“ „Der Rassismus der Intelligenz ist ein Rassismus der herrschenden Klasse“, mit ihm und da zitiert Bourdieu dann Max Weber, produziert sie eine „Theodizee ihres eigenen Privilegs“. Und sie tarnt sich, indem sie den platten Rassismus, den kleinbürgerlichen, zum Vorzugsgegenstand ihrer Kritiken aufbauscht.

31. Juli 2020

Gestern, als DER FREITAG im Briefkasten lag, las ich nur Überschrift und Vorspann und hatte schon die Nase voll. Heute schaue ich näher hin und sehe, dass dort, wo früher noch Kompetenz und Ahnung walteten, heute offenbar die Linke nicht mehr weiß, was die andere Linke tut (denn die Rechte gibt es im Hause Augstein ja per Definition nicht, die wird bekämpft). Neben der dummen Extrem-Behauptung, dass derzeit Ost-Autorinnen mit Preisen überhäuft werden, wird auch noch Helga Schütz, Jahrgang 1937, der Bachmann-Preis zugeordnet, den Helga Schubert, Jahrgang 1940, erhielt, der CICERO hatte eben ein sehr schönes, ein würdiges Foto von ihr. Abgebildet sind Elke Erb, Jahrgang 1938, und Irina Liebmann, Jahrgang 1943, alle mit Jugendfotos. Ein Blatt mit einer wöchentlichen Gender-Seite hätte diese Foto-Lügen nie durchgehen lassen dürfen. Schönen per Foto, das ist Yellow Press. Ich schrieb einen Leserbrief, obwohl ich das eigentlich nicht mehr mag.

30. Juli 2020

Wer heute 75 Jahre alt wird, dem lässt sich auch wohlwollend keine Jugend mehr andichten. Im Fall des Nobelpreisträgers für Literatur des Jahres 2014, des Franzosen Patrick Modiano, geht es dennoch: „Eine Jugend“ hat er sich selbst geschrieben, allerdings erschien das Buch schon 1981 und hat somit gewissermaßen bereits alles Anrecht auf graue Schläfen. Lang ist die Liste seiner Bücher inzwischen, Romane vor allem. Seine Nobelpreisrede kann man auf Englisch, Schwedisch und Französisch im Internet leicht nachlesen, ist mir also verwehrt. Dafür sitze ich seit nunmehr einer kompletten Woche jeden Abend auf dem Balkon, beobachte die Schwalben in der Annahme, dass es keine Mauersegler sind, beobachte den zunehmenden Mond, zünde ab einer gewissen Dunkelheit zwei Kerzen an, befülle in gewissen regelmäßigen Abständen zwei Weingläser, lausche auf die Geräusche der Nacht. Modiano ist seit 1970 mit derselben Frau verheiratet, ich seit 1976.

29. Juli 2020

Als der Schwede Eyvind Johnson 1974 gemeinsam mit seinem Landsmann Harry Martinson den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er in der DDR bekannter als im Westen, dessen Weltoffenheit in dieser Hinsicht bis heute eher der bekennenden Lippenkirche angehört als dem wirklichen Leben. Der arbeitsteilig auf skandinavische Literaturen spezialisierte Hinstorff-Verlag Rostock veröffentlichte schon in den sechziger Jahren eine Reihe Johnson-Bücher (am Ende waren es sieben) und das dünnste, die „Winterreise“, las ich im Oktober 1971, bevor ich unfreiwillig selbst nach Rostock geriet, um dort einige Winterreisen zu absolvieren und zwar in Uniform. Am 29. Juli 1900 ist Johnson geboren, am 25. August 1976 gestorben. Bis heute las ich nichts wieder von ihm und in meinem kombinierten Polen/Schweden-Regal (zufällig von IKEA) steht nur ein einziges seiner Bücher: „Die Nacht ist hier“. Auch das muss wohl noch etwas warten, ehe ich es heraushole.


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