Tagebuch

3. Juni 2020

Manchmal bin ich doch ehrgeiziger, als ich sein sollte: ich wollte meinen Beitrag zu Georg Seidel, der heute vor 30 Jahren starb, noch vor Mitternacht ins Netz stellen und ich schaffte es. Ich wollte nach dem Hinweg zum Zahnarzt, letzte Kontrolle heute und nun Rückkehr zum Normalmodus der Besuche, auch den Rückweg zu Fuß laufen. Geriet dabei in einen derartigen Platzregen, dass ich bis auf die Haut durchnässt nach Hause kam. Dafür zeigt mein lieber Schrittzähler, den ich unterwegs vor Wasser schützte mit meinem noch unbenutzten Brillentuch, schon eben mehr als 11.000 Schritte an, und einige kommen noch hinzu. Das Hotel, das wir kommende Woche nutzen wollten, weil es seit langem unser Stammhotel in Berlin ist, hat noch bis zum 30. Juni geschlossen, wir wechseln in ein Haus, dessen Rezeption in der 7. Etage ist. Die Post brachte mir ein Buch von Reich-Ranicki aus dem Jahr 1965, das tatsächlich überwiegend mir unbekannte Sachen enthält, es freut mich sehr.

2. Juni 2020

Das ist er nun, der 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki. Daraus ergibt sich messerscharf, dass es sein 80. Geburtstag war, an dem wir so zeitig wie möglich in Gehren meine Eltern nebst Gepäck im Auto verstauten, um das nachträgliche Geschenk zur Goldenen Hochzeit zu realisieren. Wir fuhren über das Großherzogtum Luxemburg, bis Chervaux kannte ich die Strecke sehr genau, in die belgische Provinz Luxemburg, den Unterschied erfassten meine alten Herrschaften erst nach Erklärung. Es war ein bisschen anstrengend, vom Parkplatz zu unserem Bungalow 718 zu gelangen mit allem Gepäck, aber dann war alles gut. Mein neunter Belgien-Aufenthalt, Elkes dritter, der erste für meine Eltern. Beide waren noch leidlich zu Fuß. Wir sahen La Roche, Bastogne, Stavelot, Spa und Malmedy. Am Morgen las ich noch „Über Hilde Spiel“ zu Ende und die Rede „Über das eigene Land“. Ich beginne zu schreiben, wenn wir in Gera angerufen haben, auch ein Geburtstag, der 71.

1. Juni 2020

Ausgerechnet der wie immer etwas krude, aber auf angenehme Art krude TATORT aus Weimar führt mir die seit 1994 leer stehenden Sophienheilstätten München nahe Bad Berka vor Augen. Diese idyllische Ruine ist ein idealer Schauplatz für einen Krimi-Showdown. Für meinen Vater war sie vor vielen Jahren der Ort, wo seine erste Tuberkulose-Erkrankung soweit geheilt wurde, dass er ein normales Leben führen konnte. Nach seiner zweiten Erkrankung war er schon im modernen Haus, wir Kontaktpersonen wurden alle mehrfach getestet und rochen, als wir ihn besuchten, dass Lungenkranke gern auf ihren Krankenhaus-Toiletten rauchen. Eine ehemalige Mitschülerin von mir sorgte als Lungenärztin für uns, wir hatten Glück, nur negative Befunde. Nach gestern fast acht Kilometern zu Fuß heute etwas weniger, dafür Umzugshilfe, wenn auch ohne mich. Ich bin mit meinem Titan-Rücken nicht mehr der große Träger, las in Ruhe ein Büchlein „Über Literaturkritik“.

31. Mai 2020

Im fernen Jahr 1987 las ich nur ganze zwei Bühnentexte: „Spartakus“ von Georg Heym und „Katzelmacher“ von Rainer Werner Fassbinder. Als ich im April 2017, fast 30 Jahre später, „Katzelmacher“ erneut las, jetzt mit zeitgemäßem Textmarker und Blick auf die Aufführung am Landestheater Coburg am folgenden Tag, war es der sechzehnte Bühnentext des Jahres, ich aber inzwischen auch Betreiber des kleinen Kritik-Portals THEATERGÄNGE. Dort ist meine Kritik noch heute leicht nachlesbar, vierstellig inzwischen die Zahl der Aufrufe immerhin, es könnte besser sein. Einst sah ich wahrscheinlich so gut wie alle Fassbinder-Filme, auch den nicht enden wollenden „Berlin Alexanderplatz“ mit Günter Lamprecht. Nach dem Maestro selber sterben nach und nach auch seine Mimen weg, zuletzt Irm Hermann, die knapp drei Jahre älter war als er. Heute ist sein 75. Geburtstag und in zwei Jahren er schon vierzig Jahre tot. Er war ein wilder Hecht.

30. Mai 2020

So langsam beginnt der 100. Geburtstag von Marcel Reich-Ranicki seine Schatten voraus zu werfen, mehr als eine ganze Seite widmet die LITERARISCHE WELT ihm heute, auch ich sitze in meinem Startloch, werde allerdings altmodisch, wie ich bin, erst am Geburtstag selbst in Aktion treten und danach freilich in diesem Jahr jede sich bietende Gelegenheit nutzen. Er hat es verdient. Beginnend im Dezember 1996 las ich in dichter Folge zwölf Bücher von ihm, zwei über ihn bis Juni 1997, seither genieße ich ihn anlassbezogen portionsweise. Wenn ich seine Reden lese, höre ich seine Stimme und wenn er vom Niedergang des Theaters in Frankfurt am Main und darüber hinaus redet, bin ich mehr bei ihm als je. Wenn er mit „Übrigens“ beginnt, kommt fast immer Wichtiges, was kurioserweise Hermann Kant für Stephan Hermlin behauptet hat. Wer nahm da wohl bei wem eine zarte Anleihe? Übrigens war Kant bezüglich Hermlins „Abendlicht“ ein ganz Hinterhältiger.

29. Mai 2020

Noch eben fragten wir uns, wann unser REWE-Markt denn bekannt geben will, dass er für längere Zeit wegen Umbaus schließt. Die Regale wurden schon seit einer Weile bei ganzen Warengruppen nicht mehr aufgefüllt, im Getränkemarkt fehlte die oberste Reihe bei Wein, wo die teuren standen. Sie waren einfach eine Reihe nach unten umgesiedelt. Nun ist es amtlich und wir dürfen in der kommenden Woche an den beiden letzten Öffnungstagen bei Angabe unserer Postleitzahl zehn Prozent Rabatt auf den Gesamteinkauf verlangen. Rückblick: Zuerst hatte der Konsum nur zwei Wohnungen als Verkaufsfläche, wir gingen in die HO-Kaufhalle, wo jetzt das Fraunhofer-Institut steht. Dann wurde der „Glasmacher“ gebaut, verglichen mit der jetzigen Kombination für Aldi und Rewe war das noch richtige Architektur. Wir gingen schon wegen der Konsum-Marken nur noch in den „Glasmacher“. Und zwar täglich, weil es immer irgendetwas gab, was es am Vortag nicht gab.

28. Mai 2020

Heute ist der Internationale Tag der Menstruation, lese ich gerade in einer roten Tageszeitung. Die Wirklichkeit produziert wie so oft die schönsten Kalauer selbst. Ich feiere den Tag nicht, denn meine Tage sind gezählt, könnte ich behaupten. Die Frage ist nur, wie weit der Zähler gekommen ist. Der Covid19-Zähler für unsere Freunde jenseits des atlantischen Großteiches hat heute die Sechsstelligkeit erreicht, nun fehlen nur noch knapp 900.000 Tote bis zur ersten Million, es wird also höchste Zeit, alles zu öffnen, was nur geht. Trump müsste nur noch dafür sorgen, dass nicht vorwiegend seine eigenen Wähler sterben. Es klappt nicht immer wie bei Hillary, dass Millionen weniger Stimmen trotzdem reichen. Was halbwegs klappt, ist die eingehende Post, sie kündigt sich an und dann ist sie auch schon da. Noch immer habe ich mir weder auf die Zunge noch in die Wange gebissen, es könnte also sein, dass ich trotz allem noch ein lernfähiger Organismus bin.

27. Mai 2020

Was wird sich Donald Trump anlässlich des 100.000. Corona-Toten morgen in seinem Land ausdenken: Überfällt er China, tritt er aus der UNO aus, wenn er sich schon nicht zur rassistischen Polizei-Gewalt gegen Schwarze äußern will? Nimmt er den Titel „Blödester Präsident seit George Washington“ doch nicht an? Ich nehme heute auch keine Titel an, ich versuche, mich an die nun gestern endgültig eingesetzten neuen Zähne zu gewöhnen, meine Zunge versucht es auch, die fast ohne Pause auf Widerstände stößt, wo lange keine waren. Der Zahnarzt hat mich sanft auf allerlei vorbereitet: Probleme bei S-Lauten etwa, Probleme mit Hirschgulasch in öffentlichen Gaststätten. Bisher höre ich nur, das Zähneputzen klingt anders als früher im inneren Ohr. Ich müsste mich eher mit dem Biss eines Krokodils anfreunden als mit dem Malmen eines paarhufigen Wiederkäuers. Ich sage mir tapfer: Wer die 67 hinter sich hat, muss nehmen, was kommt, sehr viel mehr kommt nicht.

26. Mai 2020

Zum Jahrgang 1955 habe ich ein besonderes Verhältnis. Mit einer Angehörigen verbindet mich das Verhältnis sogar schon 46 lange Jahre lang. Am 1. Juni wäre Feier-Zeit, der 1. Juni wäre Tag der Hochzeit geworden, wenn dieses Standesamt in Lichtenberg nicht für den 1. Juni keine Termine vergeben hätte. So wurde es der 9. Juni, was letztlich nicht wirklich wichtig war. Und kommendes Jahr fahren wir notfalls mit Mundschutz nach Venedig deswegen, weil wir eben alle fünf Jahre nach Venedig fahren um den 9. Juni herum. Heute aber grabe ich aus dem immer noch teilweise nicht erschlossenen Altbestand meiner Texte aus der Zeit der zweiten deutschen Diktatur (damit auch Altbürger verstehen, wovon ich Neubürger rede) einen über Doris Dörrie hervor. Die wird heute 65, weil sie eben auch dem Jahrgang 1955 angehört und am 9. Juni wird noch jemand 65, den wir erst später besuchen werden wegen Corona und ihrer Krise. Dörrie-Kolumnen sammle ich immer noch.

25. Mai 2020

Etwas über 1900 Wörter sind es geworden, was ich „Noch einmal Herbert Nachbar“ nannte. Und meine Lust auf weiteres Nacharbeiten ist kaum geringer danach, wenn ich auch erst einmal alles wieder an Ort und Stelle räumte. Zwanghaft fast meine fortlaufende Beschäftigung mit Stephan Hermlin, den ich längst weit über Karl Corino hinaus bei einer Lüge nach der nächsten ertappe und immer größer wird meine Ratlosigkeit, warum der Mann mit Pfeife und weißgrauer Musterfrisur das sich und seinen Lesern antat. Zugleich die alte Corino-Frage neu: Warum recherchierte nie jemand nach, warum glaubten alle oder nahmen alle hin, was er sich zusammenlog? Heute stieß ich auf eine angebliche KZ-Opfer-Beerdigung auf dem Münchener Waldfriedhof, deren Zeuge Hermlin geworden sein will, die so mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie stattfand. Und auf eine Militärsoldzahlung aus Frankreich in die Schweiz, die es so schwerlich gegeben haben kann.

24. Mai 2020

„Ich war die ganze Woche zu Hause geblieben, um da zu sein im entscheidenden Moment und verpasste ihn dann doch.“ So steht es rückblickend am 24. Mai 1980 im Tagebuch. Vierzig Jahre später ist die Lage umgekehrt: Ich bin in Ilmenau, das Kind in Berlin. Was man so Kind nennt. Ich kenne es von meiner Mutter. Die es ihren Urenkeln erläuterte: Euer Opa bleibt immer mein Kind. Ich werde es bis zum Uropa nicht schaffen. Ich sah einen Bericht über die Bochumer Inszenierung von Thomas Braschs „Lieber Georg“, Regie Karge/Langhoff. Ich schrieb damals auch über Filme, die ich sah, viel ins Tagebuch. Heute halte ich mich zurück. Sehe fast nur noch Krimis. Lese immerhin 60 Seiten Herbert Nachbar, der am Pfingstsonntag 1980 starb, vor vierzig Jahren. Er fasziniert mich irgendwie und tatsächlich regte mich erst sein früher Tod an, ein drittes Buch von ihm zu lesen. Das alte Tagebuch verrät: ich hätte es nie gelesen, wäre es kein bb-Buch gewesen.

23. Mai 2020

Im Mai 1980 las ich nicht weniger als 24 Bücher zu Ende, nicht alle sehr dick, aber keineswegs alle sehr dünn. Schwer vorstellbar, dass ich nebenbei meine Diplomarbeit in Arbeit hatte, Vater einer Tochter war, Mann einer lieben blonden Gattin, Sohn, der aus den Händen seiner Mutter das monatliche „Zusatzstipendium“ in Empfang nahm, nach dem Mai waren noch drei restliche geplant. Der von heute aus höchst wichtige erste Satz im Tagebuch vom 23. Mai 1980 lautet: „Ausgerechnet am bewegten Haushaltstag habe ich den Anfang für meine Diplomarbeit gefunden, der mir erfolgverheißend erscheint, von dem aus ich abspulen kann, es ist der vierte Versuch.“ Noch heute bin ich immer auf den Anfang angewiesen, schreibe mir neuerdings bisweilen sogar Anfänge auf, weil es danach mit bis zu 3000 Wörtern am Tag weitergeht, als hätte ich den Rest fertig im Kopf. Kennt jemand „Die rote Jagd“ von Stephan Hermlin? Liest sich als gedruckter NVA-Werbefilm.


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