Tagebuch

1. Mai 2018

Ohne Kampf und Feier nach Hause, Tankstelle in Gefrees von Wohnmobilen blockiert. Heimtour über  A 9 und A 4 fast auf den Kilometer wie die Hintour. Erste Neugier-Recherche Goethe auf dem Ochsenkopf, die Tafel war oben zu sehen, auch eine für Alexander von Humboldt, der fünf Jahre Oberbergmeister des Fichtelgebirges war. Meine erste Vermutung richtig, Böhmen das eigentliche Reiseziel. Und Urfreund Knebel dabei. Die uferlose Goethe-Literatur hat natürlich auch zu diesen Spezialthemen mehr als nur einen Titel, um einen werde ich meine eigenen Bestände ergänzen. In der Post die neue Spielzeit des Deutschen Nationaltheaters Weimar, der Anrufbeantworter leer. Die E-Mails müssen warten. Am Frühstückstisch memorierten wir Demonstrationserfahrungen: Warten auf dem Stellplatz, sozialstrukturelle Reihung: Intelligenz marschierte hinten, Kampfgruppen des Proletariats mampften schon an ihrer Erstwurst, als die Hochschule die Ehrentribüne grüßen durfte.

30. April 2018

Nachtrag: Ein kompletter Thermen-Tag nach vormittäglicher Einkaufsrunde in Brauerei, Destillerie und Feinkost: neun Biersorten, ein feiner Heidelbeer aus Sack’s Destille, drei feine Weiße aus dem Weingut Martin Göbel in Randersacker, darunter, hier selten genug: Gelber Muskateller. Sehr windig, aber wir konnten bis zum Abend draußen liegen. Später überall kleinere und größere Walpurgisfeuer. Weißenstadt hat die Saunen nach Handwerken genannt und gestaltet: Bergwerk, Bäckerei, Brauerei, Holzwerkstatt, Fischerhütte, angenehme Regularien, Thermalwasser-Aufguss ohne Zusatzaroma kannten wir alle noch nicht, auch Zucker-Peeling nicht. Alles überall gelb vom Extrem-Pollenflug dieser Tage. Wir lassen etliche Sachen gleich im Kofferraum für morgen. Die gesamte Gegend hat so viel zu bieten, dass wir unsere nächste Tour schon im Plan haben. Prospekte sind gebunkert, das schönste heißt „Direktvermarkter im Fichtelgebirge“, es riecht nach Zukunft.

29. April 2018

Nachtrag: Nach erstem Probegenuss der Saunen der Siebenquell-Therme gestern Erkundungsfahrt in die Umgebung heute, Ziel Ochsenkopf. Wir sehen die Eger-Quelle auf dem Weg von Weißenstadt nach Bischofsgrün, den Namen Kolbenheyer auf einem der Steine dort kenne nur ich, darf deshalb sogleich eine kleine Volksrede über ihn halten. Auffahrt mit der Schwebebahn lustig und preiswert. Lustig, weil wir drei Seniorenkarten und eine für Erwachsene lösen dürfen. Versorgungskultur mit DDR-Memory-Feeling oben. Immerhin wissen wir jetzt, wo das war, wonach Opa Reinhold vor fast  60 Jahren seine Antenne nicht ausrichten durfte, zu sozialistischer Korrekturarbeit aber niemanden auf sein Dach ließ. Umrundung des Sees zu Fuß mit Besichtigung der preiswürdig als Denkmal gestalteten Überreste des Granitwerks von Erhard Ackermann und der 14 Stelen zum Stundenbuch Eugen Gomringers. Nirgends Sexismus. Abends erneut Gasthof zum Deutschen Haus, Genüsse pur.

28. April 2018

Sagen wir so: dieser Sonnabend leitet einen kurzen Ausflug in eine Gegend ein, in der wir noch niemals waren. Der so genannte Brückentag am Montag fordert die Büro-Schaffenden im Volk dazu heraus, einen Reisezusammenhang herzustellen, der familiale Anhang der Büro-Schaffenden reist mit und setzt sich sogar uneigennützig auf der Hinfahrt ans Steuer. Es steht zu vermuten, dass wir nicht zwingend auf dem städtischen Friedhof vor Ort das Grab von Peter Beauvais aufsuchen, auch wenn der einst ein ziemlich berühmter Regisseur war und in einer seiner Ehen mit Sabine Sinjen verheiratet, die ich mochte, als ich noch zur jüngeren Menschenklasse gehörte. Wir werden heute einen Hochzeitstag begehen mit Cremant aus Luxemburg und Würzburger Stein, begleitet von noch nicht final fixierten Tröpflein. Am Kampf- und Feiertag aller Werktätigen wollen wir Rückschau halten in aller gebotenen Kürze und uns freuen, dass wir nicht fertig sind mit den 2018er Reisen.

27. April 2018

Sechs Spalten mit Foto, es wäre kokett, wenn ich meine Freude darüber kleinreden würde, zumal FREIES WORT (nicht seine Ilmenauer Mitarbeiter und die meisten anderen auch nicht) nicht direkt korporatives Mitglied meines Fan-Clubs ist. An Landolf Scherzer werde ich auch im nächsten Leben nicht heranreichen, der gefühlte 42mal im Monat die Spalten seines einstigen Blattes ziert, das er sehr viel früher als ich in kaum weniger großer Einvernehmlichkeit verließ. Mich wird es allerdings, realistisch betrachtet, sicher nie nach Kuba, vielleicht irgendwann nach Griechenland verschlagen, und falls ich mein Venedig-Buch veröffentliche, wird es das 937. Venedig-Buch sein, für das ich mich dennoch nicht eine Sekunde schämen werde. In „Vermittelnde Kritik“, einer Auswahl kritischer Texte von Adam Heinrich Müller, dem Kleist-Freund, las ich leise verblüfft: „Verständlichkeit, Klarheit, Zugänglichkeit der Kunst, das ist demnach ihre wahre Bedeutung“.

26. April 2018

Drei Kritiken las ich vor im wachsenden Bewusstsein, dass Kritiken nicht unbedingt den Hörstoff bilden, aus dem die Träume sind. Auch wenn es noch keine Buchlesungen gibt, in die urlustige Lachkonserven eingespielt werden, Lesungen dieser Art machen den Kernbestand aller Herbst-, Frühlings- und sonstigen Lesen aus. Man will nach jedem dritten Satz zweimal schon gelacht haben, es bevölkert inzwischen eine ganze weitgehend konsistente Schar von Show-Autoren die Szenerie, die Bibliotheken zum Aufstellen zusätzlicher Stühle zwingen. Nichts gegen sie. Nichts. Es gab Maler, die konnten nur Pferdeärsche malen und gingen in diesem Metier den großen Meistern zur Hand, ein Copyright für Pferdeärsche wurde allerdings nie rechtswirksam. Ihre Ärsche hängen in allen großen Galerien, nur weiß das niemand. Dass Johannes Wüsten vor 75 Jahren im Zuchthaus Brandenburg an Tbc starb, brachte NEUES DEUTSCHLAND heute eine größere Kleinanzeige ein.

25. April 2018

„Erlesenes“ hieß eine nicht eben langlebige Buchreihe des Verlags Volk und Welt, in der DDR vor allem für  ausländische Literatur zuständig. Vorn drauf war ein großes „E“ und drin Novellen aus der aktuellen Sowjetliteratur. „Erlesenes“ heißt die Buchhandlung in der Ilmenauer Marktstraße, auf dem lindgrünen Lesezeichen ist eine Ziege zu sehen. In dieser Buchhandlung habe ich heute, weil es die Woche des Buches ist und ich ein neues Buch anbieten kann, einen kleinen Auftritt, 19 Uhr geht es los. Da weder Demonstrationen noch Gegendemonstrationen angemeldet wurden, gehe ich von einem ruhigen Verlauf aus, zumal im Fernsehen die Königlichen gegen die Kaiserlichen spielen müssen, denn noch steht nicht fest, wer im Finale gegen Liverpool verlieren darf. Mein Buch heißt, Eingeweihte erinnern sich, „Wie es mir gefällt“ und versammelt 33 Shakespeare-Kritiken. Ich setze auf Theaterfreunde, die zugleich Shakespeare-Freunde sind: auf die rote Liste aussterbender Arten.

24. April 2018

Alfred Polgar gehört zu jenen, die meinen Privat-Olymp so weit oben besiedeln, dass ich nur mit Fernrohr nach ihnen schauen kann. Er starb am 24. April 1955. Am 4. April 1926 druckte „Der Tag“ sein „Ich kann keine Romane lesen“. Dort heißt es: „Eigentlich wollte ich sagen, dass der Mensch, obwohl er oft, ich zum Beispiel, wirklich gar nichts dafür kann, erschütternd viele Menschen kennt. Indem du lebst, setzt sich Bekanntschaft an wie Zahnstein …“. Romanlektüre ist ihm deshalb: „Das heißt Wasser ins Meer tragen, Sand in die Wüste, Tradition ins Burgtheater“. Grammatiken las er lieber: „Bin ich hinten, bei der Veränderlichkeit des participium passivum der rückbezüglichen Zeitwörter angekommen, habe ich das Kapitel vom Konjunktiv in Relativsätzen längst vergessen. Ich kann jedes Kapitel immer wieder lesen, bin immer wieder überrascht von den Neuigkeiten, die es mir mitzuteilen hat. Versuchen Sie das mit dem Zauberberg.“ Das nennt man dreiste Behauptung.

23. April 2018

Einen unfreiwilligen Hausarrest habe ich mir für heute verordnet, der sogar den Gang zum Briefkasten ausschließt. Zum Glück sind Briefkästen an Montagen in Zeiten modernen Postvollzugs vor allem der Luft vom Wochenende vorbehalten, sonst könnte es mich grätzen, innen Postgut zu sehen, ohne an es heranzukommen, denn: meine Haustür, Haus- und Briefkastenschlüssel befinden sich auf  Kurz-Dienstreise in der Kreishauptstadt, respektive in der Mittelkonsole des motorisierten, vierrädrigen und fünftürigen Familienfahrzeugs japanischer Produktion, mit dem wir gestern das nahe Weimar besuchten. Wir wanderten vom Goethe- und Schiller-Archiv bis Tiefurt und zurück, schlürften unterwegs herrlich duftende Frühlingsluft, Ausnahme ein sehr kurzes Stück am Klärwerk Weimar vorbei, wo dann doch die Kacke leise dampfte. 100 Jahre alt wäre heute Maurice Druon, den wir wegen Corona Schröter und Friedrich Hildebrand von Einsiedel schnöde vernachlässigen.

22. April 2018

Wie schmeckt Bratwurst ohne Fleisch, fragt die Sonntagszeitung heute. Den Test habe ich nicht gemacht, vermute aber, sie schmeckt etwa wie Rührei ohne Ei, oder wie Sinti-und-Roma-Schnitzel ohne Schnitzel. Traditionelle, herkömmliche, also nicht Maxim-Gorki-Theater-taugliche Brätel und Bratwürste sind in eingeschweißtem Zustand an meiner Tankstelle erhältlich, die Brätel mariniert, müssen also nur noch auf den Rost gelegt werden. Einen Rost stellt man am besten unter einer Reihe geöffneter Schlafzimmerfenster auf, das verbessert die Schlummerluft entscheidend und zwingt nur unter Umständen zu sehr langen Lüftungen. Das schreibende Unterhosen-Model Frank Schätzing hat wieder einen Thriller veröffentlicht, während Nordkorea einfach keine Atomwaffen mehr testen will, denn der Nachteil einer getesteten Atomwaffe ist der, dass sie anschließend nicht mehr zur Verfügung steht. Wir reisen jetzt in die Kulturstadt Weimar, eine atomwaffenfreie Zone.

21. April 2018

„Flucht – Exil – Migration“ ist die Jahrestagung der Shakespeare-Gesellschaft in diesem Jahr überschrieben, denn Flüchtige, Exilanten und Migranten gibt es beim ollen Willy ja auch. Als ich unlängst verschiedentlich versuchte, das Weimarer Büro der Gesellschaft telefonisch zu erreichen, war dessen Besetzung vermutlich auch eben auf der Flucht: vor Anrufern. Immerhin erfuhr ich, man könne auch ein Fax senden oder eine E-Mail. Bei Google erfuhr ich, was Faxe früher waren, eine E-Mail, mir vertrauter, sandte ich hin, eine Antwort kam nicht. Shakespeare hätte vermutlich ebenfalls nicht auf solche Post reagiert, insofern bleibt mein altes Weltbild intakt. Auf der Suche nach einigen brauchbaren Informationen zu einer Porträt-Zeichnung von Goethes Hand stieß ich auf eine Domain namens Weimarpedia, die ich bisher, tut mir leid, nicht kannte. Als ich las, was die Schülerin (Name der Redaktion bekannt) zu dieser gesuchten Zeichnung geschrieben hatte, tat es mir nicht mehr leid.

20. April 2018

Gewöhnlich verfällt eine Wochenzeitung bei mir, wenn ihre Nachfolgerin erscheint, der Schere und dem Papiercontainer. Der Vorgang vollzieht sich schrittweise, es ist eine Tätigkeit für müde oder späte Tagesphasen. Dann stoße ich beim Schneiden auf einzelne Stellen im Druck, die mich von gedankenloser Weiterarbeit abhalten. Was bedeutet die Aussage: „Alexander Schimmelbusch hat mit „Hochdeutschland“ den Roman der Stunde geschrieben“? Heißt es, wenn ich das gegen Acht lese, dass ich ihn bei Neun schon vergessen darf? Werden Romane deshalb geschrieben, um nach einer Stunde erfolgreich dem Vergessen anheim zu fallen? Natürlich meint der Kritiker, der solche Blödsinnszeilen verantwortet, nicht, was er sagt. Natürlich ist der Redakteur, der den Blödsinn durchgehen lässt, nicht etwa blind. Es ist einfach geschäftstüchtiges Unterbewusstsein, das der nächsten Verlagsanzeige zitierfähige Kernaussagen liefert, die gar keine sind, aber so tun, als ob.


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