Tagebuch

7. April 2018

Man kann sich so ziemlich erstmals in diesem Jahr wieder auf einen Gartenzaun gelehnt und ohne dicke Jacke mit Nachbarinnen unterhalten, die man verschollen glaubte: Rentner eben, unterwegs von hier nach da, von da nach hier. Werden wir dann auch weitgehend unsichtbar sein? Vermutlich. Ein Rente empfangender ehemaliger Landtagsabgeordneter erzählte mir gestern, er sortiere derzeit seine alten Zeitungsausschnitte, sogar Fortsetzungsromane darunter, die er einst über die einstige Grenze geschickt bekam. Auch ich war zeitweise sein Sammelgegenstand, als ich noch regelmäßig eine Print-Kolumne veröffentlichte samstags. Das einzige meiner Bücher, das es im Buchhandel nicht gibt, obwohl es nicht vergriffen ist, heißt „Samstag oben links“. Die winzige Zielgruppe weiß allerdings, dass immer ein Stößchen bei mir liegt, Anruf genügt, oder Mail. Noch winziger ist die Gruppe derer, die Elisabeth Brock-Sulzer kennen, ich entdecke sie eben über ihr Buch „Theater“.

6. April 2018

Warum, um alles in der Welt, schreibt eine deutsche Wochenzeitung anlässlich einer neuen Übersetzung von Homers „Odyssee“ ins Englische, dass man die jetzt endlich wieder lesen könne. Wer, um alles in der Welt, der bisher die „Odyssee“ unleserlich fand, stöhnt jetzt erlöst: endlich. Die Übersetzerin ist eine Frau, aha. Wir ahnen: Schimmel sind weiß. Also die erste Frau, die 12.110 Hexameterverse ins Englische übertrug. Macht das die Sache an sich schon gut? Wie machen sich überhaupt griechische Hexameter im Englischen? Hoffentlich nicht wie französische Alexandriner im Deutschen oder deutsche Blankverse im Russischen. Die Überschrift des Beitrages von fast einer kompletten Seite Länge heißt „Homerun Homer“. Homerun wiederum kommt vom Baseball-Spiel. Das wiederum ist das Spiel, das allen besonders gefährlichen männlichen Menschen, und manchen weiblichen wohl auch, eine prima Mordwaffe servierte. Homer als Lederkugel oder was jetzt??

5. April 2018

Meine früheste Notiz zu Wsewolod Garschin, noch mit Schreibmaschine getippt, stammt vom September 1989, meine späteste am Ende von immerhin 22 Druckseiten Datei, vom Juni 2006. Garschin starb am 4. April 1888, nachdem er sich fünf Tage zuvor in den Treppenschacht seines Wohnhauses gestürzt hatte. Mich hat seinerzeit manches bei ihm an den Amerikaner Ambrose Bierce erinnert, der 1914 spurlos verschwand, es ist nicht einmal sicher, ob das tatsächlich in Mexiko geschah. Wer wissen will, wie man gegen den Krieg schreibt, möge beide lesen, ihr Werk ist so schmal, dass man einfach vorn anfangen sollte und nicht eher aufhören, bis hinten Schluss ist. Vielleicht wird Garschin sogar wieder einmal von den Feuilletons erwähnt, es braucht dazu vor allem eine neue Übersetzung, die eigentlich niemand braucht, und vielleicht die üblich unsinnige Lautumschrift, die alle vertrauten und berühmten russischen Namen zur Unkenntlichkeit verzerrt.

4. April 2018

Zwanzig Jahre ist das Verbot von Landminen alt, unsere amerikanischen Herzensfreunde mit ihrem orangefarbenen Präsidenten an der Spitze haben immer noch nicht unterschrieben, was nichts anderes bedeutet als: es ist egal, welcher Präsident dort  im Weißen Haus seiner First Lady das Knie tätschelt: unterschrieben wird nichts. Landminen liegen dummerweise bis dato nie in den USA, immer nur dort, wo der Durchschnittsamerikaner gar nicht weiß, wo das ist. Da hilft auch der Internationale Anti-Minen-Tag nichts. Weil heute vor 50 Jahren Martin Luther King erschossen wurde, hören wir überproportional oft sein „I have a dream“, was uns braven Bundesbürgern suggeriert, es käme darauf an, einen Traum zu haben. Fällt aber in die Rubrik Irrtum. Träume sind, wissen wir, Schäume und zwar Schäume ohne Schaumfestiger. 77 Jahre alt ist heute Angelica Domröse, die wir Paula nennen dürfen. An Paul und seinen steigenden Drachen denken wir nicht.

3. April 2018

Frühling ist, wenn der tierliebe Nachbar seine Kaninchen und Meerschweinchen erstmals aus dem Winterstall in den Garten lässt unter das gespannte Netz, das gegen Angriffe von oben schützt. Das gilt natürlich nicht für urbane Ballungsräume, dort kümmert sich niemand um den Luftschutz für erwünschte Nagetiere. Nachbars Laufenten sind auch bei Kälte schon durchs Gras gewackelt, sie bekommen, wie ich inzwischen bildsam erfuhr, einfach keine kalten Füße. Im Tierpark Dessau sah ich deutlich größere Laufenten, die ihre fliegenden Kolleginnen neidfrei einfach ignorierten. Es ist nämlich im Tierreich keineswegs so, dass die, die etwas nicht haben, das, was andere haben, unbedingt auch haben wollen, es sei denn, es ist verspeisbar und fällt ins eigene Beuteschema. Im Tierpark Dessau sah ich Präriehunde, die sich mit dem Eskimo-Nasenkuss begrüßten und dann jeweils das eigene Futterteil beknabberten. Am „Faust“ bin ich dran. Ohne jeden Nasenkuss sogar.

2. April 2018

Drei Nächte sind schnell vorüber, das Gepäckvolumen hat sich dank des Wechsels der Ostergaben kofferraumfreundlich verringert. Das Hochwasser 2002 reichte bis an den Terassenrand, erfuhren wir, unsere beiden Apartments wären komplett unter Wasser gewesen. Verblüffend große Container-Transporte auf der Elbe in beide Richtungen. Heimfahrt ohne Staus und Sperrungen wieder über Halle via A 143, A 38 und A 71. Der Himmel fast komplett strahlend blau bei Abreise. Zu Hause nur die Lieferung der Literarischen Gesellschaft Thüringen bei Nachbarn abzuholen. Kleine Ergänzung der „Edition Muschelkalk“. Meinen Text für die THEATERGÄNGE schiebe ich auf morgen, ich orientiere mich an Ostermontagen in Italien, wo die Bürgersteige hochgeklappt werden ab Mittag. Das Reiseprogramm des Jahres mit einem Termin Mitte Juni ist nun komplett, wir werden gleich zwei Geburtstage auf einen Streich feiern, 40 und 6. Und heute noch ein Montags-Tatort zum Fest.

1. April 2018

Die Kinder haben zweifache Suchfreuden, vor dem Frühstück bei sich, nach dem Frühstück bei uns, es gibt große Papp-Ostereier mit diversen Kleinigkeiten drin. Wie immer der meiste Spaß mit den einfachsten Sachen: zwei dehnbare Gummischlangen von vielseitiger Verwendbarkeit. Ausflug zum Dessauer Tierpark,  nach dem gestrigen Fußmarsch zum Bauhaus und der Meisterhaussiedlung die zweite Schaulust-Befriedigung. Die Reste des Osterfeuers hinter Neeken glimmten noch kräftig; als ich aus dem Theater heimfuhr, sogar wieder Flammen. „Faust I“ überraschend gut mit Großeinsatz von Opernchor und Ballett. Faust vierfach wie schon in Dresden, hier ist die Nummer 4 eine Puppe, die drei anderen verkörpern die Lebensalter des Gretchen-Verderbers. Das eingespielte Ensemble war fast zwanzig Minuten eher fertig als im Programm ausgedruckt, die letzte Vorstellung in dieser Spielzeit sollte wohl etwas mehr Feierabend lassen am Ostersonntag. Nur 3,50 Euro im Parkhaus.

31. März 2018

Ein unfallbedingter Stau von acht Kilometern Länge hätte unsre gestrige Anreise ins Ungewisse verlängert. Wir wählten deshalb eine Strecke über Landstraßen von Halle bis Dessau und hatten in Brambach Glück: Unsere beiden Wohnungen wie auch das Einzelzimmer schon beziehbar, die Elbe tatsächlich unmittelbar vor der Nase. Die Vorbereitungen zu einem riesigen Osterfeuer sahen wir im Vorüberfahren. Heute Orientierungsbesuch in Dessau, das angekündigt miserable Osterwetter dort zwang uns unter Dach. Beute im großen Einkaufszentrum am Rathaus für mich eine Jacke, ein Paar neue leichte Schuhe, vier neue Biersorten aus der Landsberger Brauerei mit lustigen Namen wie „Stolzer Hahn“ und „Bunter Hund“. Weitere acht Sorten auf dem Heimweg über Roßlau. Schöne Städte sehen anders aus als Dessau, einzelne Schönheiten gibt es dennoch. Das Verstecken der Ostergaben wird auf morgen verschoben. Der Tisch ist für 18.30 reserviert mit sieben Plätzen.

30. März 2018

Frostiger Karfreitag, kombiniert mit eiskaltem Wasser aus der Leitung in meinem Bad, zum Glück haben wir deren zwei, dort kommt das Wasser, wie wir es bezahlen. Den Havariedienst möchte man lieber doch nicht anrufen, er könnte meinen, es handle sich um sportliche oder kulturelle Dinge und auf deren geltendes Verbot verweisen. Bald sind wir auf dieses warme Wasser ohnehin nicht mehr angewiesen, wir reisen ins Land der Frühaufsteher, um ein wenig Familienzusammenführung zu vollziehen, österliche. Luise Hensel hat ihren 220. Geburtstag heute, in Paderborn findet sich ihr Grab. Die dortige Universitätsbibliothek präsentiert eine schöne alte Biographie von Dr. Franz Binder, fast 500 Seiten stark, eingescannt, man kann sie am Bildschirm kostenlos lesen. Rentner sahen schon gestern ihre Märzbezüge auf ihren Konten, was mich früher nicht interessiert hätte, jetzt aber beginne ich zügig ein so genanntes vitales Interesse an diesen Bezügen zu entwickeln.

29. März 2018

Die Scherzfrage lautet nicht: Wo waren Sie, als in Zürich „Biedermann und die Brandstifter“ unter Oskar Wälterlins Regie am 29. März 1958 seine Uraufführung erlebte? Ich hatte gut vier Wochen vorher meinen 5. Geburtstag in heute gründlich vergessener Weise gefeiert, ob Gustav Knuth den Biedermann spielte oder nicht, war mir gleichgültig. Später gewann ich Vorstellungen, wer Gustav Knuth war, später wurde mir Max Frisch lieb und lieber, aber damals? Die bisher einzige Sichtung des Lehrstücks ohne Lehre auf einer Bühne war ein Berliner Ereignis, in THEATERGÄNGE kann man es noch nachlesen. Inzwischen haben sich Schüler-Theater des Stückes angenommen, was weder gegen das Stück noch gegen Schülertheater spricht, nur ich bin auf dieser Ebene nicht mehr an Deck. Ich bewältigte gestern erstmals seit ewig noch im Monat der Buchmesse in Leipzig die Archivierung sämtlicher Beilagen und weiß nun genau, wer Gastland Rumänien schnöde ignorierte.

28. März 2018

Es gibt bei Menschen, die es vermeintlich oder tatsächlich zu etwas gebracht haben, einen mehr als merkwürdigen Reflex. Bekommen sie eine Mail, was früher ein Brief gewesen wäre, von einstigen flüchtigen oder besseren Bekannten, dann reagieren sie nicht oder verkniffen, denn sie können sich des Gefühls nicht erwehren, da wolle jemand etwas von ihnen. Sollte mich mein Gefühl nicht sehr täuschen, dann war das in der gammligen alten DDR nicht so, was seltsame Beweiskräfte entfalten könnte. Dieser küchenphilosophische Anfall ist möglicherweise mit diesem Satz aus „Kleinbürger“ von Maxim Gorki zu erklären: „In einem freilich sehe ich gar nichts Angenehmes: darin, dass über mich und andere ehrliche Menschen, Schweinehunde, Dummköpfe und Spitzbuben bestimmen!“ Gorki legt diesen Satz seinem Lokomotivführer Nil in den Mund, wo er wenig Geschmäcklerisches hat, eher Wahrheit. Gorki, lernte ich einst, bedeutet „der Bittere“, wie Stalin „der Stählerne“ war.

27. März 2018

Morgen hat Maxim Gorki seinen 150. Geburtstag. Aus diesem Anlass habe ich erst einmal zwei alte Texte aus den Untiefen meines Archives gefischt, einer stand 1986 in NEUE HOCHSCHULE, der andere hätte in FREIES WORT stehen sollen anlässlich des 50. Todestages im Juni 1986, blieb aber auf dem Schreibtisch des verehrten Redakteurs liegen oder landete im bodennahen Rundordner, die Details kenne ich nicht. Im November 1969 las ich als Exemplar aus der Bibliothek „Die Mutter“, es folgten bis Oktober 1971 weitere 27 zum Teil dicke Gorki-Titel, darunter zuletzt aus der großen Werkausgabe „Über Weltliteratur“ und „Über Literatur“ als Reclam-Band. Der frühe Erstkontakt mit Gorki kam mit einem Trompeterbuch zustande, „Blümchen Siebenblatt“ mit drei Geschichten von Gorki und zweien von Valentin Katajew (Band 39). Zuletzt las ich „Jakow Bogomolow“ und kam mit dem Roman „Der Spitzel“ aus Zeitgründen nicht zu Ende. Er liegt aber noch in Griffweite.


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