Tagebuch

2. November 2020

Mein Fest- und Feier-Kalender weist für heute den 50. Todestag von Johannes Urzidil aus, der einst in Prag geborene Mann starb in Rom. Mich begleitet er seit etlichen Jahren, weil ich sein Buch „Goethe in Böhmen“ immer wieder benutze und nebenbei auch systematisch von vorn nach hinten lese. „Da geht Kafka“ kaufte ich mir erst viel später und „Das Glück der Gegenwart. Goethes Amerikabild“ las ich im Februar 2016. Wilhelm Steffens meldet in seinem Buch über Georg Kaiser die Uraufführung von „Der Soldat Tanaka“ für den 2. November 1940, Georg Hensel stattdessen für den 9. November. Ich jedenfalls las den Dreiakter am 9. November 2003 und schrieb meine Notizen noch mit meiner elektrischen Schreibmaschine. Hätte ich gesammelt, wie oft sich solche Daten in unterschiedlichen Quellen voneinander unterscheiden, wäre bereits ein hübscher Datensatz zustande gekommen. Manchmal erwische ich auch selbst einfach nur die falsche Spalte in meinem Kalender.

1. November 2020

Das Schöne an Feiertagen, die auf einen Sonnabend fallen und nicht in allen Bundesländern gefeiert werden, ist: es gibt keine Zeitungen: besser, keine, die ich als solche bezeichnen würde. Die eine, die es gibt, habe ich in dreißig Jahren deutscher Einheit zirka viermal gekauft, das ist 25 Jahre her. Heute aber ist ein völlig normaler Sonntag, ich gehe wie an allen Sonntagen unabhängig von ihrer Normalität zu meiner Tankstelle und erwerbe dort die Sonntagszeitung meiner Wahl, die aus Frankfurt. Die trage ich frohen Mutes nach Hause, freue mich auf ein abgerüstetes Mittagessen, welches mit Blick auf Kaffee und Kuchen wenig später rasch verzehrt ist. Es sieht trübe aus heute und alle sind angeblich noch überall hin gesaust, wohin sie morgen nicht mehr dürfen. Das wenige, was ich will, darf ich, unnötige Kontakte meide ich nicht erst lange, ich habe sie gar nicht. Soweit, so schlecht. Wann kommen eigentlich die ersten Masken-Tatorte ins Fernsehen? November Rain.

31. Oktober 2020

„In Berlin, meine Freunde, wird man schnell vergessen, und es ist traurig, am letzten Tage des Oktober mit nassen Füßen durch die verregnete Bellevue-Alle zu wandeln und zu bedenken, dass es nicht genügt, sich Verdienste erworben zu haben und ein Denkmal. Man muss in dieser fixen Stadt auch jemanden haben, der auf das Denkmal aufpasst, dass es nicht geklaut wird.“ Ich fand diese Berlin-Beschreibung bei Walther Kiaulehn, von dem es ein berühmtes Buch gibt, „Berlin: Schicksal einer Weltstadt“ und dann noch etliche andere Bücher mit viel Berlin und auch etwas weniger Berlin. Kiaulehns Leben hat Abgründe in den Jahren 1933 bis 1945, die mancherorts ausgeblendet wurden, was andernorts zu ihrer Überbetonung führte. Man kann daraus lernen, wenn man nach dreißig Jahren deutscher Einheit unbedingt etwas lernen will. Unsere wegen Corona vorbereiteten Halloween-Tüten warten im Flur, es kommt niemand, es klingelt niemand: so gehen wir spazieren.

30. Oktober 2020

Der Weltspartag weckt in mir das sonderbare Gelüst, die dicken amerikanischen Wähler mögen in der kommenden Woche ihren Corona-Superman nicht wieder wählen und der SPIEGEL könnte sich fortan wieder um eine andere Titelfigur kümmern. Mir gehen sie nur noch auf den Sack. Ich kann die orange Fresse einfach nicht mehr sehen. Unsere schöne neue Schwimmhalle ist kaum eröffnet, schon muss sie wieder schließen und nachdem ich nun dreimal wieder geschrieben habe, gehe ich zu anderen Themen über. Rotwein vielleicht? Warum kommt so wenig Lagrein zu uns? Von Rom aus wären wir heute nach Norden gefahren zur Übernachtung am Gardasee, wir hätten Costermano besucht. Dickfellig wie ich bin, habe ich für September 2021 mutig eine Italien-Tour gebucht, nur wegen der Vorfreude. Wegen eines Termins in der kommenden Woche las ich ein Nachwort aus DDR-Zeiten, das mit Zitaten aus Texten erfreut, die im Buch gar nicht vorkommen: DDR eben.

29. Oktober 2020

NEUES DEUTSCHLAND überrascht heute mit dem Foto eines acht- bis neunstöckigen Gebäudes, welches nach etwa einjähriger Fertigstellungsverzögerung die Rosa-Luxemburg-Stiftung beinhaltet. Dies ist, lese ich, die letzte parteinahe Stiftung gewesen, die ein eigenes Gebäude bezog. Dumm nur, dass in diese acht Etagen nicht alle Mitarbeiter passen, weil sich die Stiftung seit der Nachricht vom großen Eigenheim offenbar rasanter vergrößert hat als eine Stopfgans unter Dauermais. Zwei Fünftel passen nicht mit rein und ich frage mich als ehemaliger DDR-Bürger, der mit zwei Kindern auf 59 Quadratmetern wohnen durfte und das auch noch toll zu finden hatte wegen toll niedriger Miete und toll zeitnah gebautem Kindergarten nebenan (anderthalb Jahre später nur), wie viel Platz auf acht Etagen jeder einzelne Stiftunger (inklusive aller vertretenen Geschlechter) da wohl für sich beanspruchen darf. Jedes Büro mit eigener Sauna oder eigenem Tischtennis-Raum? Ach, die Linke.

28. Oktober 2020

Da nun wieder die deutschen Bürgersteige eingerollt werden, die deutschen Theater ihre Hygiene-Konzepte in den Rundordner werfen dürfen, haben auch wir unsere für morgen geplante Reise nach Leipzig gestrichen, wo wir übermorgen den guten alten Dürrenmatt besuchen wollten mit seinem „Besuch der alten Dame“. Hat die alte Dame eben Pech: wenn wir schon mal kommen, dann kommen wir dann doch nicht. Mäßiger Ersatz: heute vor haargenau 100 Jahren hatte zeitgleich in Leipzig und Dresden das ziemlich haarsträubende expressionistische Stück „Jenseits“ von Walter Hasenclever deutsche Erstaufführung, obwohl es vorher schon eine natürlich auch deutsche Aufführung in Prag gegeben hatte, nur Prag war eben jetzt, nun ja, Ausland. Seit 1918, als all diese Kaiserreiche dahingingen. Wenn sie nicht dahingegangen wären, wer weiß, was Joseph Roth für Bücher geschrieben hätte, ob überhaupt. So haben Untergänge ihre schönen Seiten, letztendlich.

27. Oktober 2020

Alfred Kerr, der sehr berühmte, schrieb im Februar 1921 in einer Kritik zu „Jenseits“ von Walter Hasenclever: „Mitunter fast ein Zustand wie bei Tieck, wo der heilige Bonifacius vorn an die Rampe tritt und äußert: Ich bin der heilige Bonifacius.“ An solchen Stelle neige ich zu schwersten Lachanfällen, was gefährlich sein könnte, wenn ich allein zu Hause bin. „Auch tellurische Phrasen, mein Lieber, sind Phrasen“, sagt Kerr. Da kann man ihm kaum widersprechen. Auf dem Weg über Florenz nach Chianciano Terme hätten wir heute am Futa-Pass den Soldatenfriedhof gesehen, morgen den von Pomezia, ehe wir Rom erreicht hätten. Das Abendessen in einer Taverne der Altstadt ersetzen wir durch ein Nudelgericht zu Hause im heimischen Speisezimmer. Beim Essen schauen wir bisweilen aus dem Fenster, weil es Zeiten gibt, da ganz bestimmte Hunde mit ganz bestimmten Herrinnen ihre Gassi-Runde drehen, deren Anblick wir sehr regelmäßig genießen.

26. Oktober 2020

Ich grabe mich in kleinen Portionen durch ein wissenschaftlich extrem fragwürdiges Buch mit dem Titel „Der Theaterkritiker Arthur Eloesser“. Der Wert des Buches besteht eigentlich in seiner puren Existenz seit 1962. Verfasserin Doris Schaaf wurde weder vorher noch nachher jemals auffällig mit irgendetwas außer diesem naiven und bisweilen sogar einfältigen Buch. Immerhin hat sie viel gesichtet und die Quellen in den zahlreichen Fußnoten festgehalten, was einen gewissen Eigenwert bekommt, weil man danach immerhin diverse Quellen kennt, ohne sie wirklich zu kennen. Denn was zitiert wird, ist nach allen eigenen Sätzen der Autorin wenigstens verdächtig, nicht zwingend das Prägnanteste gewesen zu sein. Hier müsste von vorn bis hinten nachgearbeitet werden. Ich grase im weltweiten Netz nach Archivquellen alter Zeitschriften, kann bisweilen Inhaltsverzeichnisse durchblättern, stoße bisweilen auf Bezahlschranken, vor denen ich erst einmal pferdartig scheue.

25. Oktober 2020

So wären wir nun heute gen Italien gereist, die eine oder andere Kriegsgräberstätte zu besichtigen, heute erst einmal nur bis nach Sterzing, das der Italiener bekanntlich Vipiteno nennt. Über Brixen wäre es morgen bis nach Bologna gegangen, wo wir noch nie waren, es wäre also allerhöchste Zeit geworden. Ist aber nicht. Ob die Reise im kommenden Jahr abermals angeboten wird, wissen wir nicht, im Moment galoppieren die Zahlen, als trainierten sie für Karlshorst. Schauen wir also lieber 20 Jahre zurück, wo uns ein Reiseleiter namens Ivan in Pula während unserer ganztägigen Istrien-Rundreise davon zu überzeugen suchte, dass es völlig ausreicht, das Amphitheater von außen zu sehen, was außerdem die Ersparnis von 16 Kuna bedeutete. Ich gehöre dummerweise zu denen, die gern 16 Kuna für Amphitheater ausgeben, falls sich die nötige Landeswährung in meinen Händen befindet, was durch einfaches Tauschen gut hätte bewerkstelligt werden können. Es folgte Rovinj.

24. Oktober 2020

Schreibe ich von meiner wundervollen neuen Papierschere, die etwas wie der Ferrari unter den Papierscheren ist und meine uralte Schnippelschnappel ablöst, die ich vor fast 30 Jahren aus den Nachlassbeständen der ILMENAUER TAGESPOST privatisierte wie auch einige 7B-Bleistifte, die schon so mürbe sind, dass sie brechen, wenn sie unglücklich fallen? Schreibe ich von der Insel Cres, wo ich vor 20 Jahren eine seltsame Fischmahlzeit unter Deck essen durfte und keine Delphine sah? Oder von seltsamen Frauen aus Nordrhein-Westfalen, die der ZEIT Fotos schicken von ihren Marmeladen mit der seltsamen Nachricht, diese im Winter zu essen? Die ZEIT hat ein seltsames Zeit-Problem, sie empfiehlt im Sommer immer Sommer-Bücher für den Urlaub. Der Gedanke, im Sommer andere Bücher als im Winter zu lesen, ist mir in meinen fast 68 Lebensjahren niemals gekommen, allerdings weiß ich auch nicht, was cis-Heteros sind und schäme mich dessen nicht.

23. Oktober 2020

Selbst die Tatsache, dass er italienischer Kommunist war, hat ihm nicht ins DDR-Taschenlexikon „Fremdsprachige Schriftsteller“ verholfen, weder sein internationaler Erfolg mit „Zwiebelchen“ noch seine zahlreichen Reisen in die Sowjetunion. Heimgekehrt von der letzten, starb er am 14. April 1980 in Rom. Alte DDR-Kinder wie ich erinnern sich womöglich an den „Fahrstuhl zu den Sternen“, das war ein Trompeter-Buch mit der Nummer 96 oder an „Der blaue Pfeil“, an „Ein Wolkenkratzer auf See“. Als die DDR dahingeschieden war, brachte der Leipziger Reclam-Verlag noch eine „Grammatik der Phantasie“ heraus, die später großzügig von Stuttgart übernommen wurde nach der Liquidation des zum Ableger degradierten Alt-Verlages. Der Alt-Westen hatte den Italiener nie völlig ignoriert, es gab ja Kleinverlage und Klaus Wagenbach. Heute ist Rodaris 100. Geburtstag, selbst der Abrufstatistik bei WIKIPEDIA merkt man das an. Falls man sie denn abruft.

22. Oktober 2020

Ausgerechnet heute, wo unsere Neuinfektionen in bis dato ungeahnte Regionen vorstoßen, streikt der ARD-Videotext, in dem ich seit Monaten allmorgendlich die Seiten 812 bis 814 aufschlage. Denke ich also ersatzweise an die ersten Grottenolme meines Lebens. Ich sah sie am 22. Oktober 2000 in Slowenien während eines Tagesausflugs von Rabac in Kroatien aus. Zwölf Jahre dauerte es bis zum nächsten Tagesausflug in dieses kleine Land: wir sahen Maribor und kamen aus der Südsteiermark. Vor 150 Jahren wurde Iwan Bunin geboren, von dem Konstantin Paustowski schrieb: „Je mehr ich von Bunin lese, desto klarer wird mir, dass sein Werk unerschöpflich ist.“ Nach den DDR-Ausgaben kaufte ich nur noch Bunins Revolutionstagebuch „Verfluchte Tage“ und die literarischen Reisebilder „Der Sonnentempel“, viel Stoff für ein viel zu kurzes Leseleben, das ja auch ein Schreibleben ist. Als Kind lauschte Bunin dem Weinen sterbender Fliegen im Spinnennetz.


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