Tagebuch
26. Februar 2021
Die dicke Rosa-Luxemburg-Beilage der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist genial redigiert. Unter der Überschrift „Eine Sozialistin wird 150“ beginnen Dagmar Enkelmann und Daniela Trochowski so: „Am 5. März 2021 – so nimmt die Forschung an – wurde Rosa Luxemburg geboren.“ Das muss man erst einmal können: den Geburtstermin so exakt voraussehen. Dafür sind die Verfasserinnen (kein Mann dabei, schon gar kein alter weißer) eben Verfasserinnen. Was für eine Forschung ist es denn, die Geburtstermine für seit 100 Jahren Tote annimmt? Harmlos dagegen das Sammelwerk „Juden im deutschen Kulturbereich“, das noch in der zweiten Auflage von 1959 Luxemburg gleich zweimal ein Jahr älter machte. Immerhin wissen wir nun, dass eine Ungeborene bereits so viel geschrieben hat, dass es für sieben Bände in neun Büchern reicht, die bald auch digital zu lesen sein werden. Shaftesbury, heute vor 350 Jahren geboren, hätte sich scheckig gelacht: oder doch geweint?
25. Februar 2021
Eine erste recht dicke Rosa-Luxemburg-Beilage purzelte heute aus einer Zeitung, die ich im Regelfall an Donnerstagen im Kasten habe, weil sie den Freitag im Titel führt. Der Dichter und Verleger Lawrence Ferlinghetti ist einen Monat vor seinem 102. Geburtstag gestorben, er war, wie doppelt zu lesen in meinen heutigen Blättern, eine Beatnik-Legende. Man sieht an dieser nicht näher kommentierten Formulierung, dass auch die Nachruf-Verfasser dem Durchschnittsalter bestimmter Schildkröten bei Hagenbeck und in anderen Zoos bedenklich nahekommen. Was um Himmels willen war ein Beatnik? Derweil wird selbst der junge Hüpfer Franz Xaver Kroetz heute schon 75 Jahre alt und wenn man an seine Skandale denkt mit „Stallerhof“ und dergleichen, denkt man in der ehemaligen DDR auch an die lustige Zeit zwischen dem 7. und dem 8. Parteitag der SED, da gab es noch Kybernetik und Systemtheorie. Das ist heute so exotisch wie die DDR selbst.
24. Februar 2021
Weil heute schon der CICERO für März im Briefkasten liegt, darf ich ihm attestieren, wohl das vorerst letzte größere Feuilleton-Stück über einen Roman einer Dame mit dem leidlich seltsamen Namen Hengameh Yaghoobifarah zu präsentieren. Man muss diesen Roman nicht mehr lesen, weil alle, aber auch wirklich alle sich für nennenswert haltenden Feuilletons ihn in einem Umfange ins Blatt gezerrt haben, dass einem der Atem stocken sollte. Alles nur einer saugeschickt lancierten taz-Kolumne wegen? Wer faselt noch von medialer Unabhängigkeit, wenn alle im Gleichschritt traben und das Schreibmädel sich vermutlich in zwei Fäustchen kichert, wie sie dem Schweine-Markt eins wischte. Ein suchmaschinenfester Name reicht nicht, das Verfahren mit natürlich nicht inszeniertem Skandal dagegen ist alt wie eine kalifonische Korkeiche. Lieber hätte ich über Oskar Loerke oder Ludvik Askenazy geschrieben, 80 Jahre tot der eine, 100. Geburtstag der andere. Und Hengameh?
23. Februar 2021
Coronafern von uns und folglich auch ohne uns feiert heute unsere Lieblings-Tina einen Geburtstag, dessen Rundung sie selbst als gewöhnungsbedürftig bezeichnet. Wir zeigen tiefes Verständnis für diese Sichtweise, weil wir selbst diese Rundung bereits hinter uns haben und der nächsten Rundung massiv näher rücken. Wir haben uns angewöhnt, einen gewissen Grundoptimismus an den Tag zu legen, dessen Gegenteil wir denen überlassen, die daraus ein Geschäftsmodell entwickelt haben. Was helfen uns die Zahlen, wenn wir sehen, dass das vor nicht langer Zeit impftrübe Thüringen jetzt zum Impf-Spitzenreiter mutiert, während die Inzidenz für sieben Tage fast doppelt so hoch ist wie bei den Inzidenz-Spitzenreitern. In meinem Archiv habe ich nach John Keats geschaut, der vor genau 200 Jahren starb und siehe: ich besitze nur Material aus der Neuen Zürcher Zeitung zu ihm und das gute alte Leipziger Reclam-Buch mit den Briefen. Und vor zehn Jahren starb Gustav Just.
22. Februar 2021
Je frühlingshafter das Wetter am Nachmittag, desto weiter unsere Gänge, der heutige begann mit dem Blick auf eine mit Kreide geschriebene Tafel: das „Schlemmerstübchen“ verabschiedet sich. Ruhestand für die Betreiber, für uns wieder ein Ort weniger, wohin wir gelegentlich gern essen gingen, als wir noch essen gehen durften. Drin winkte es, als wir durch die Scheibe schauten, es ist eben auch traurig. Ein Mann im Rollstuhl, der früher unser Nachbar war, 30 und mehr Jahre ist es her, begrüßte uns auf dem Fuß- und Radweg oberhalb der Bahngleise. Ein Wesen, das nicht Mann und nicht Frau sein will und den Namen Lann Hornscheidt trägt, will einem Millionen-Sprachraum eine neue und völlig idiotische Kunstsprache aufdrücken, die allem, was Literatur war seit Walter von der Vogelweide, den Garaus machen würde. Es finden sich Menschen, die das unterstützen. Bis die den Sieg errungen haben werden, darf noch gedichtet werden, danach ist jeder Vers hinfällig.
21. Februar 2021
„Nicht schon wieder Schiller!“ schrillt die Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung heute. Man sieht kanarienvogelgelbe Reclam-Hefte aus Stuttgart, beschmiert und verziert sind einige mit offenbar überall üblichem Schüler-Unfug. Man kann die Autorennamen sehen: Lessing gleich zweimal, einmal Fontane, einmal Schiller („Maria Stuart“), einmal Sophokles, „Antigone“, kaum zu erkennen, schließlich ein Goethe, ein Wilhelm Hauff, identifizierbar auch der nicht ohne alle Mühe. Unter genannter Überschrift steht noch: „Im Homeschooling kehren auch die Schrecken der Schullektüre zurück“ und es gibt einen Verweis auf das Feuilleton. Dort füllt dieses, wie sein Name schon sagt, mehr als eine ganze Seite. „Wer Kinder hat, darf manche dieser Meisterwerke im Homescooling jetzt wieder lesen. Andere sind froh, das nie mehr tun zu müssen.“ Der Grauen des alten Westens: meine Eltern wären nie auf die Idee gekommen, meine Schul-Pflichtbücher zu lesen.
20. Februar 2021
Zwei Jahre ist es her, da ich mir, als Kostprobe gewissermaßen, „Der Herrscher“ vornahm, das ist eines der kürzesten Stücke von Eugéne Ionesco, ich las es und dann kam so vielerlei dazwischen, dass nicht einmal für ein paar Notizen Zeit blieb. Es geht um einen Herrscher, der keinen Kopf hat, wohl aber einen Hut, „das ist leicht darzustellen“, schrieb Ionesco in seine Regiehinweise. Der einst modische Ansager des Stückes verrät: „Er braucht keinen, denn er hat Genie!“ Mehr braucht man kaum zu sagen, wenn es um absurdes Theater geht. Dennoch habe ich mir den heutigen siebzigsten Jahrestag der französischen Uraufführung von „Die Unterrichtsstunde“ zum Anlass genommen, ein ungeplant langes Stück Text zu fabrizieren, mehr als 3500 Wörter an einem Sonnabend, schon am zeitigen Morgen begonnen, nicht lange vor Mitternacht beendet. Und nebenbei noch mehr als 10.000 Schritte gelaufen. Eine lange Runde, die wir wegen Schnee und Nässe bis heute mieden.
19. Februar 2021
Es taut tapfer weiter, nur die größten Haufen widerstehen noch. In Berlin wird ein Geburtstag im kleinsten Kreise gefeiert, zu dem wir ohne unsere liebe Freundin Corona auch gefahren wären. Schwacher Ersatz ist Skype. Weil die höhere Technik im Hause wieder ordentlich funktioniert, streikt zur Abwechslung das Festnetz-Telefon. Man könnte mit ihm den Service anrufen, aber dann brauchte man den Service ja nicht. Ehe man einen leibhaftigen Menschen an der Strippe hat, kann man seine alte Balkonbepflanzung entsorgen, die Teetassen spülen oder ein altes Stück absurden Theaters lesen. Inzwischen funktioniert das Telefon kurzzeitig wieder, aber es scheint ein tieferes Problem vorzuliegen. Als André Gide vor 70 Jahren starb, wurden Verbindungen noch von echten Fräuleins gestöpselt. Als Paul Zech vor 140 Jahren geboren wurde, war das erste Gespräch in Deutschland mit einem Bell-Apparat eben vor vier Jahren geführt worden. Fortschritt geht anders.
18. Februar 2021
Zu den schönsten Beschäftigungen Linker gehört es, andere Linke zu bekämpfen. Würde man behaupten, dass das bei den Rechten ähnlich funktioniert, also an den Rändern, würde man Proteste ernten von wegen Gleichsetzung. Lassen wir es also stehen: NEUES DEUTSCHLAND rempelt heute auf der Titelseite gegen JUNGE WELT, weil JUNGE WELT offenbar vorher gegen NEUES DEUTSCHLAND rempelte. Es gab Zeiten, da kämpften Kommunisten derart tapfer gegen den Sozialfaschismus der SPD, dass sie gar nicht richtig merkten, wie der tatsächliche Faschismus die Macht übernahm. Später faselten einige von Einheitsfront, aber am Ende war es immer wie im „Leben des Brian“: Volksfront von Judäa gegen Judäische Volksfront. Monty Python wusste vor 50 Jahren alles. Ansonsten gibt es ein neues Buch von Gisela Steineckert, die es also immer noch gibt. Sie wird im Mai 90 Jahre alt, mit Schlagertexten scheint sie es nicht mehr so zu haben wie dereinst.
17. Februar 2021
Es ist tatsächlich passiert: Herbert Köfer erlebt und feiert seinen 100. Geburtstag und ist dabei niemals singend ins Maxim gegangen mit weißem Schal um Hals und Ohren. Monty Jacobs sprach am 17. Februar 1938 zur Trauerfeier für den drei Tage vorher im Jüdischen Krankenhaus Berlin verstorbenen Arthur Eloesser. Ich fand ausgerechnet heute ein sehr frühes, vielleicht das früheste Porträt von ihm, gedruckt im September 1905 in Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“, der Autor Kurt Walter Goldschmidt ist 1942 im Ghetto Lodz verschollen. Seine Arbeit über Hermann Hesse zu dessen 50. Geburtstag hat nicht einmal der omnipräsente Hesse-Kenner Volker Michel in seinen einschlägigen Text-Sammlungen zur Hesse-Rezeption. Dreißig Jahre älter als der lebende Köfer war der nicht mehr lebende Georg Britting, von dem ich eben „Die Rettung“ las, eine Geschichte, in der ein Mann erst die falsche Frau rettet und dann gemeinsam mit seiner richtigen Frau ertrinkt.
16. Februar 2021
Zweimal nur war ich Teilnehmer des Schweriner Poetenseminars: 1974 und 1975. Die damaligen Teilnehmer sind jetzt überwiegend Rentner. Einer dieser Rentner, Ralph Grüneberger, wird heute 70 Jahre alt. Von den vielen, die ich kannte, ist er mir im Gedächtnis geblieben, weil wir im Schloss, in dem heute die Regierung sitzt, ein Doppelstockbett zur Verfügung hatten. Ob er oben und ich unten oder umgekehrt, weiß ich nicht mehr sicher, er kann sich an mich gar nicht mehr erinnern, wie sich bei einem nachwendlichen Neugierkontakt meinerseits ergab. Ich wollte nichts weiter von ihm, er schickte mir ein Buch mit dem Titel „Worttreffen“, in dem ich auch tapfer las, aber es war nicht so mein Ding. Ich bin stehen geblieben bei seinem „Poesiealbum 198“, bei „Frühstück im Stehen“ und „Stadt Name Land“, danach blieb die DDR stehen. Ob nun viel oder wenig Politik in ein Gedicht gehört, ist keine Frage, die mich interessiert. Auch die alten Kinnbärte quirlen keine Nostalgie hoch.
15. Februar 2021
Dass er selbst es nie erfahren wird, ist das Traurige an diesem Tag des Regenwurms, von dem noch nicht einmal sicher ist, wann genau er eingeführt wurde: um 2005, las ich. Das ist freilich in so sagenhafter Vorzeit, dass man sich freuen darf, wenigstens eine ungefähre Vorstellung zu haben. In meinen sehr jungen Jahren, ich wohnte in der Friedensstraße 3 in Gehren, gehörte es zu meinen kindlichen Vergnügungen, Regenwürmer zu sammeln, in einer fluchtsicheren Blechbüchse sie zu verwahren, um dann auf der anderen Seite der Straße im dortigen Hof die frei laufenden Hühner mit diesen Würmern zu füttern. Es muss für die Hühner eine Kombination von Weihnachten und Ostern gewesen sein. In Langewiesen und wohl auch andernorts wird heute Wilhelm Heinses gedacht, der daselbst vor 275 Jahren das Licht der Welt erblickte, falls seine Augen nicht noch zu sehr verklebt waren. „Auch der dümmste Mensch hat seine Wahrheiten, die man von ihm lernen kann.“ Sagte er.