Tagebuch

26. September 2020

Nachtrag: An einem letzten Tag mit mittelprächtigem Wetter und stark gesunkenen Temperaturen fährt man gut, zum Stift Göttweig zu fahren. Dort gibt es, anders als auf der Schallaburg, für die geneigten Ohren gut funktionierende Audio-Guides mit noch besser portionierten Informationen. Ich fotografierte emsig vor mich hin, auch in der Stiftskirche, diesmal ohne Gesang. Nur eine einsame Marillenmarmelade aus dem Klosterladen kauften wir, die Weine sind einigermaßen teuer, den Messwein kosteten wir schon am zweiten Abend in Langenlois. Den Balkon mit dem herrlichen Blick durften wir nicht betreten, das blieb denen vorbehalten, die an einer Führung teilhatten, was wir nicht so lieben, wenn es Alternativen gibt. Nach der Heimkehr vom Hauermandl lud ich die Weinkisten in den Kofferraum, immer noch schwer übersättigt vom großen Mahl für zwei Personen auf einem Brett, wir hätten es wissen müssen. Walter Benjamin nahm sich vor 80 Jahren das Leben.

25. September 2020

Nachtrag: Nach vier langen Wanderungen zum Bäcker heute wegen heftigen Regens mit dem Auto dorthin und gleich Vorrat bis Sonntag gekauft. Die Idee mit dem Vorrat hätte mir eher kommen können, dann aber wäre mein Schrittzähler unterfordert geblieben. Stilles Frühstück, kein Gedanke an Erich Maria Remarque, der vor 50 Jahren starb und vor 45 Jahren gewisse Teile meines Bestands an ungarischen Forint forderte, um einige seiner in der kleinen DDR nicht veröffentlichten Bücher in Budapest, Vaci utca, zu erwerben. Kurz entschlossen heute die Fahrt zum Schloss Walpersdorf, wo wir einmal schon waren, was kein Grund ist, nicht erneut dort zu erscheinen. Es ist eigentlich nur eine Verkaufsausstellung, aber eine mit enormem Schauwert und neckischen Kleinigkeiten, die zum Kauf verlocken. Ein Olivenholz-Salatbesteck zum Beispiel. Im Schlossgraben weiden gehörnte Schafe und weiße Gänse, die man ultraweiß nennen könnte. Doppel-Schnitzel im Hauermandl.

24. September 2020

Nachtrag: Klänge es nicht rentnertypisch kindisch, würde ich sagen: Mein Haupterlebnis heute war im Naturpark Geras das Füttern zweier Esel sowie einer deutlich größeren Zahl kleinerer und auch größerer Ziegen. Sie alle schleckten begeistert aus meiner Hand die Futterpellets, die ich gegen ein geringes Entgelt erwerben durfte, nachdem wir zuvor zwei Achtel zur Stärkung genommen hatten. Stift Geras ist ansehnlich und sehenswert, noch mehr, wenn sich strahlend blauer Himmel darüber wölbt. In der Stiftskirche zelebrierten drei Männer in Straßenkleidung und einer im Ornat im Chorgestühl etwas mit Gesang und Gebet, was uns eine Weile zum Lauschen nötigte. Auch den Kräutergarten des Stifts nahmen wir ausführlich in Augenschein. Von den Tieren des Naturparks, die nicht zum Streicheln und Füttern gedacht sind, sahen wir nur zwei sehr schöne Luchse und drei Hirsche, alle anderen zogen es vor, sich jeglicher Besichtigung zu entziehen. Am Abend bei Nastl.

23. September 2020

Nachtrag: Zu Hause hätte ich gestern über Hanna Heide-Kraze geschrieben, deren 100. Geburtstag war und wie ich in Hohen Neuendorf auf dem Grundstück neben ihrem Grundstück hörte, dass sie immer splitternackt im Garten duscht. Heute aber bin ich wie gestern im Kamptal, was mich einiger Pflichten enthebt, etwa, an Prosper Merimée zu denken. Wir sahen heute erstmals in all den Jahren Schloss Grafenegg von außen, spazierten lange im ausgedehnten Park umher bei schönstem Wetter, wir pflückten mit etwas Mühe einige gräfliche Äpfel von einem frei zugänglichen Baum. Wenn das alle machen würden, dachte ich als gut erzogener Rentner, aber es machen ja nicht alle. Es kommen nicht einmal alle nach Grafeneck. In Krems verspeisten wir sehr leckeres Eis beim Italiener, der nur noch bis Mitte Oktober geöffnet hat. Im „Wellen.Spiel“ am Donau-Kai kaufte ich einen Karton voll Gelber Muskateller. Die Sammlung wächst in aller Stille. Am Abend wieder zum „Hauermandl“.

22. September 2020

Nachtrag: Natürlich besuchen wir auch von Langenlois aus die Schallaburg, deren diesjährige Ausstellung den Titel trägt „Donau. Menschen, Schätze & Kulturen“. Man folgt der Donau von der Mündung bis zur Quelle, muss viel lesen, weil es keine Audio-Guides in Corona-Zeiten gibt, dafür aber überall die übliche Maskerade. In Österreich reicht ein Meter Abstand und auf den Tischen finden sich Salz- und Pfefferstreuer, Kerzen und Zahnstocher, alles, was bei uns verbannt ist. Die einzelnen Staaten an der Donau nutzen die Gelegenheit der Präsentation, um Werbung für sich zu machen. Nicht wenige Informationen waren neu für uns, etwa über die Vojvodina oder über Russe. Wir besuchten auf dem Heimweg das Ursin-Haus in Langenlois, in dem es nicht nur die Tourismus-Information, sondern auch eine sehr gute Vinothek gibt. 58 heimische Winzer sind versammelt mit ihren Weinen, ich kaufe zunächst ausschließlich Gelbe Muskateller, etliche mir noch unbekannte.

21. September 2020

Nachtrag: Weil wir eher abfuhren und unterwegs rein gar keine Zeitverzögerung eintrat, waren wir gestern schon 14.20 Uhr in Langenlois. Das erste, was wir vermissten: eine Kaffeemaschine. Heute Morgen stand sie vor der Tür. Das zweite, was wir vermissten: der angekündigt nahe Bäcker. Ich muss mehr als 2600 Schritte laufen, um mit Brötchen wieder in der Ferienwohnung zu sein. Der Fußweg ins Ortszentrum ist nur für Menschen, die ein Konditionstraining absolvieren oder für den Marathon trainieren. Gestern und heute mehr als 10.000 Schritte, obwohl wir eigentlich nur zum Loisium gestern und zur Sandgrube 13 heute unterwegs waren.  Die Führung in der Sandgrube 13 war inklusive Geruchsproben während eines Films und Weinproben während des Rundgangs ein echtes Erlebnis. Wir sahen auch die drei Weine, die bei uns im Supermarkt stehen, Teil eines Teilsegments. Glatte Fehlanzeige ist das mehrfach ausgeschilderte Beethovenhaus Gneixendorf.

20. September 2020

Da ist er nun, der 100. Geburtstag von Hanns Cibulka, der mich allein durch seine ausdauernd fragmentarischen Aussagen dazu zwingt, aus allen Mosaiksteinen, die er liefert, etwas wie ein Bild zu erstellen, das auch in der Summe wieder nur ein Fragment sein wird. Immerhin ist es aufregend, jemandem Geheimnisse zu entlocken, die er offenbar gar nicht preisgeben wollte. Wenn einer Tagebücher veröffentlicht, die keine sind, weckt er Erwartungen, die er gar nicht erfüllen will. Als einer, der selbst im Lauf der Jahre seit 1971 Tausende Seiten gefüllt hat, wobei nur dieses Tagebuch für die Öffentlichkeit geschrieben wird, alle anderen Handschriften habe nicht einmal ich selbst je wieder gelesen, falls ich nicht einfach nach sachlichen Informationen suchte, hege ich bestimmte eigene Erwartungen, die ich ungern enttäuscht sehe. Auch meine Erwartungen ans Urlaubswetter sehe ich ungern enttäuscht, heute erleben wir die erste Probe und schweigen bis zur Wiederkehr.

19. September 2020

Die Menge der Pflichten, die ich auferlegt bekomme vor einer Urlaubswoche, ist freundlich viel geringer, als die Menge der Pflichten, die ich mir selbst auferlege. Immerhin habe ich heute noch einmal mehr als 3200 Wörter geschrieben, die als kleiner Ausgleich für ausfallende etwa 1000 Wörter hier im Tagebuch gelten sollen. Eigentlich sollten es zwei Sachen werden, aber für die zweite reichte die Zeit nicht. Es gehen jetzt sogar wieder Mails von Theatern ein, die mich fragen, zu welchen Premieren ich bis Dezember kommen möchte. Schleicht sich da etwas Normalität ein ganz heimlich, still und leise? Natürlich nicht, die Plätze reichen nicht für zwei Pressekarten. Mein Urlaubsziel liegt laut Routenplaner 663 Kilometer von hier entfernt, ich werde 6 Stunden und 17 Minuten unterwegs sein, wenn ich keine Pausen mache, nicht tanke und nirgends ein Stau ist. Das ist natürlich Unsinn und so schlage ich ein wenig auf in der Ankunftszeit, morgen bin ich schlauer.

18. September 2020

Mit „Umbrische Tage“ bin ich auch fertig, werde aber frühestens nach unserer Reise in die Nähe eines großstädtischen Risikogebiets darüber schreiben. An manchen Stellen wird Hanns Cibulkas 100. Geburtstag schon vorgefeiert, denn es gibt in der Provinz keine Sonntagszeitungen. Zu meinem nicht geringen Erstaunen hat auch Adolf Endler am 20. September Geburtstag, den 90. zwar nur, aber in fast all meinen Dateien steht er unter dem 10. September. Inzwischen habe ich alle mir zur Verfügung stehenden Nachschlage-Medien überprüft: es steht 4:3 für den 20. September, die für den 10. September plädierende Minderheit muss schweigen. Adolf Endler, das sei verraten, kam 1955 aus dem Westen in die DDR und durfte gleich den vollen Lehrgang am Literatur-Institut Leipzig absolvieren. Sage nie wieder einer, erst nach der Wende hätten es Wessis im Osten leichter gehabt. Sie haben sich dafür gerächt, indem sie Tarzan vom Prenzlauer Berg wurden. Oder so ähnlich.

17. September 2020

Donnerstage waren jahraus, jahrein Tage, da ich am frühen Morgen in unterschiedlichen Graden von Munterkeit zu Fuß oder zu Fuß in Kombination mit Bus oder mit Auto erst den Bäcker, dann den Zeitungshändler besuchte. Man registrierte, wenn ich etwas früher kam, man wunderte sich, wenn ich etwas später kam. Jetzt ist das Wundern für mich nicht mehr spürbar. Ich gehe nicht mehr zum Bäcker, weil ich aus irrationalen Gründen keine Semmeln mehr esse, ohne dass mich meine Ernährungsberater dazu aufgefordert hätten oder gar mein Blutzuckerwert. Teilschuld räume ich der Übergangsphase zwischen meinen alten und meinen neuen Zähnen ein. Zum Zeitungshändler gehe ich ebenfalls nicht mehr, weil eine in meinem Haushalt lebende freundliche Person weiblichen Geschlechts dies übernimmt, da sie ohnehin in der Stadt ist. So kann ich erst nach ihrer Rückkehr fluchen, dass schon wieder keine „Berliner Zeitung“ nach Ilmenau gekommen ist: Scheiß-Logistik.

16. September 2020

Die Versuchung ist groß, da weiterzumachen, wo ich gestern vor dem Sauna-Nachmittag aufhörte. In der 1976er Ausgabe „Tagebücher“ von Cibulka folgt auf das erste, „Sizilianisches Tagebuch“, das zweite, „Umbrische Tage“ und es beginnt mit der Ortsangabe „Orvieto“. 2002 waren wir da auf dem Weg nach Rom und der „Illustrierte Reiseführer Orvieto mit herausnehmbarem Stadtplan“ steht noch in meinem Italien-Regal nicht weit von einem der DuMont Reise-Taschenbücher mit dem einfachen Titel „Umbrien“. Aus dieser Reihe besitze ich etliche Bände und nutze sie auch in jedem Fall, wo ich die entsprechende Region besuche. Wie konnte ein DDR-Bürger, und auch noch ein berufstätiger dazu, mit Frau und Sohn komplette 30 Tage in Italien verweilen im Jahr 1960? Ich habe in meinem fast 68 Jahre dauernden Leben nie einen Menschen getroffen, der zu DDR-Zeiten Italien sehen durfte, später kannte ich einen Rom-Pilger, der nach 1990 Professor geworden war.

15. September 2020

„Nachtwache“ heißt das Buch von Hanns Cibulka, das ich gestern zu späterer Stunde zu lesen begann und heute, ehe wir das herrliche Wetter zu einem Ausflug nach Sohnstedt nutzten, schon zu Ende brachte. Zwei Bücher signierte mir Cibulka am 27. Oktober 1989, eben diese „Nachtwache“ und den Gedichtband „Losgesprochen“. Erst 2014 ergriff ich die Gelegenheit seines zehnten Todestages, um ein paar Zeilen über ihn zu schreiben, das Ergebnis steht noch im Netz und kann dort nachgelesen werden. Er gehörte zu denen, die man gern die „Stillen im Lande“ nennt, weil sie nicht vor den Kameras hopsen, sobald die sich einmal auf sie richten, ja nicht einmal wirklich in diese Situationen geraten, dass der ARD-Korrespondent oder die ZEIT-Korrespondentin just da gerade lustwandeln, wo Cibulka aus seiner Gothaer Bibliothek kommt, um ein Statement über alte Griechen abzugeben. Ein Schriftsteller, der immer eine feste Anstellung hatte, ein DDR-Wundertier.


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