Tagebuch

11. Oktober 2020

Das wäre der 92. Geburtstag meiner Mutter geworden, doch schon den 91. verfehlte sie um zwei Wochen. Unmittelbar unter meinem Bildschirm steckt noch ihre letzte Erinnerungsnotiz vom 13. September 2019, in der sie festhielt, wer am 21. September zu ihr zu Besuch kommt. Noch immer liegen Nachlass-Dinge bei uns auf Stapeln und in Kartons, ein handgeschriebenes Reisetagebuch aus dem Jahr 1961 bewahrt ein seltsames Dokument: der Kaderleiter des Rates des Kreises Ilmenau teilt meinem Vater unterm Datum des 26. Mai 1961 mit, dass die Kaderabteilung die geplante Reise in die Sowjetunion, eine Touristenreise, befürworte. Es war das Reiseprogramm Nr. 15b/61, 19 Tage Aufenthalt im Gastland mit dem ausdrücklichen Hinweis: Ehepaare haben keinen Anspruch auf Zweibettzimmer. Es war eben doch nicht alles gut im real existierenden Sozialismus, wenigstens für Ehepaare nicht. Meine Thornton-Wilder-Kritik ist genau 2000 Worte lang geworden, glatter Zufall.

10. Oktober 2020

Die Absage kam schon gestern, heute erst las ich sie: unsere Reise nach Italien vom Mai ist zum zweiten Male in diesem Jahr gestorben, auch der neu angesetzte Termin ist dank der fröhlichen Corona-Entwicklung perdu, der Unterschied liegt nur darin, dass die Reise jetzt komplett bezahlt ist und wir hoffen müssen, das Geld zurück zu bekommen. Es wäre schön gewesen, liebe Kriegsgräber, euch in diesem Jahr doch noch zu sehen, ob es dann 2021 etwas wird, wollen wir momentan gar nicht  in Erwägung ziehen. Von Harold Pinter, der heute 90 Jahre alt geworden wäre, habe ich mal eben rasch nichts gelesen, meine letzte Lektüre liegt 13 Jahre zurück, das war eine Zeit, da Marcel Reich-Ranicki sich noch zu neuen Nobelpreisträgern äußerte. Dem Pinter gönnte er den Preis, fand aber, er käme viel zu spät. Thornton Wilders Meininger „Wir sind noch einmal davongekommen“ war den Ausflug wert. Meine Notizen fülle ich heute noch auf und gehe erst morgen ans Schreiben.

9. Oktober 2020

Man muss Glick sagen, wenn man diese Louise meint, lerne ich. Ich meine eher Tadeusz Różewicz im Moment, weil der heute 99 Jahre alt geworden wäre und ich nicht weiß, ob man es ihm hätte gönnen sollen, so alt zu werden. Dafür ist heute der Tag, an dem ich zum zweiten Mal in dieser jungen und von Corona verseuchten Spielzeit ein Theater aufsuche. Aus unerfindlichen Gründen ist das Meininger Staatstheater das Haus, das von allen, die ich sonst besuche, als einziges etwas anbietet, was mich interessiert. Ich muss mich fahren lassen, weil mein widerspenstiger Rücken es nicht erlaubt, bestimmte Bewegungen mit dem linken Bein zu tun, das ich aber für die Kupplung brauchen würde. Widrigenfalls kann der Schmerz so stark sein, dass mir womöglich schwarz vor Augen wird, was auf Autobahnen nicht sonderlich empfehlenswert ist. Ich las von Różewicz mal eben rasch „Polnisches Begräbnis“ und legte eine neue Datei für ihn an: mit dem Blick auf 2021.

8. Oktober 2020

Louise Glück also. Als ich vom Kauf meiner Donnerstagszeitungen nach Hause kam und diesen Namen hörte, sagte ich spontan: Nie gehört. Ich dementiere meine Aussage insofern, als ich sage: vor vielen Jahren einmal unterschwellig wahrgenommen: mein Archiv enthält genau drei Stücke zu ihr. Dorothea von Törne begrüßte im November 2007 den ersten deutschsprachigen Gedichtband „Averno“, ein knappes Jahr später wurde „Wilde Iris“ in der Rubrik „Taschenbücher der Woche“ der „Literarischen Welt“ knapp besprochen, seither herrscht editorische Funkstille. Ein halbes Jahr ließ damals noch die „Neue Zürcher Zeitung“ verstreichen, ehe sie im Februar 2009 „Wilde Iris“ anzeigte, Autor Jürgen Brôcan, in dessen Anthologie „Sehen heißt ändern“ 2006 die nunmehr sicher sehr glückliche Louise erstmals in deutscher Sprache erschien. Vielleicht hat Luchterhand München noch ein paar alte Exemplare auf Lager. Dazu Trauer: Ruth Klüger und Günther de Bruyn sind tot.

7. Oktober 2020

Für den heutigen „Tag der Republik“ seligen Andenkens habe ich eine Flasche „Gemischter Satz“ der Weingärtnerei Aichinger kalt gestellt. „Gemischter Satz“ war seit unserem Urlaub in Baden bei Wien ein Gegenstand gesteigerter Neugier. Inzwischen tranken wir diese und jene Flasche davon. Wenn Wiener sich in der Wachau ansiedeln oder, was häufiger vorkommt, in der Wachau Urlaub machen, fragen sie bisweilen die Winzer, warum sie keinen „Gemischten Satz“ im Angebot haben und schon bewegt sich der Markt ein wenig. Ilse Aichinger, die 95 Jahre alt wurde, war vermutlich mit der Weingärtnerei weder verschwistert noch verschwägert. Weil aber ihr 100. Geburtstag im kommenden Jahr elf Tage vor ihrem fünften Todestag in Erinnerung zu holen sein wird, will ich heute schon mal wenigstens ihren Namen aufrufen. Hanns Cibulka ließ einst sein Alter Ego Andreas Flemming mit seiner Liv in Swantow Gumpoldskirchner trinken, weit weg von Gumpoldskirchen.

6. Oktober 2020

Früher wäre das ein Vorabend gewesen, heute ist es der Tag, da unser Mülltonnenstandplatz endlich verschließbar wurde. Man muss nun immer mit seinem Hausschlüssel hinab gehen und die sehr spannende Frage lautet: wie lange hält die technische Mechanik? In unserem kleinen Gästezimmer hängt nun über der Tür ebenfalls endlich jenes kleine Eckregal, das ich mir eigentlich zu meinem 65. Geburtstag schenken wollte. Erst Corona räumte das Großauftragsbuch des Tischlers meiner Wahl so weit leer, dass er auch mal wieder einen kleineren Auftrag erledigen konnte. Optimistisch, was alles hineinpasst, war ich bis knapp vor Beginn des Einräumens, dann machte sich Theodor Fontane dort derart breit, dass mit Mühe und Not noch Gottfried Keller zu verstauen war, später holte ich mir beim Bücken nach einem vom Tisch gefallenen Lineal einen postklassischen Hexen-Schuss, was mir altem Atheisten den Gesang der Engel auf überraschende Weise sehr nahe brachte.

5. Oktober 2020

Das Transferfenster schließt heute um 18 Uhr und dann ist erst einmal Ruhe im fußballerischen Menschenhandel. Immer mehr Clubs werden zu Leihhäusern, die Internationalität der Teams wird immer größer, man denkt gerührt an Zeiten, da bei Energie Cottbus kein einziger Bürger spielte, den man nach heutigen Sprachregelungen nicht mehr näher benennen darf, ohne seltsame Wörter zu benutzen wie Bio-Deutscher, als gäbe es die in der Grünen Ecke der Menschen-Discounter. Na gut. Die Bürger, die in Berlin sämtliche Regeln verletzen, die man verletzen kann, sehen, soweit man die Bilder in den Nachrichten sieht, auch so aus, das man sich nicht traut zu sagen, wie sie aussehen, weil in Berlin inzwischen selbst das Wort Migrationshintergrund in den Sprachuntergrund migrieren musste. Immerhin könnte es passieren, dass man in Charlottenburg nicht mehr über die Straße darf, wenn man in Kreuzberg schaute, wie lang die Nächte dort sind. Wegen erstellter Bewegungsprofile.

4. Oktober 2020

Heute gibt es in Ansbach eine Führung auf den Spuren von Johann Peter Uz. Auch ich bin immer noch auf seinen Spuren, weil ich immer neue Sachen entdecke, die ich gern noch verarbeiten will. Mein Textverarbeitungssystem dreht mir mit dickster Hartnäckigkeit den Namen um und macht Zu daraus. Das hatte ich zuletzt bei einem juristischen Goethe-Enthusiasten namens Klien, der immer wieder zu Klein gewandelt wurde. Seit Freitag liegen nun sämtliche Bestände von und zu Theodor Fontane auf dem Fußboden, weil sie übermorgen einen neuen Stellplatz finden sollen. Ich war selbst erschrocken, wie viel sich da gesammelt hat und wie viel Überhang es noch aus dem Jahr des großen Jubiläums abzuarbeiten gäbe. Donald Trump geht es eigenen Auskünften nach so unfassbar gut, dass man glauben kann, Covid19 sei eine Art Badekur für orangefarbige Präsidenten. Von seiner Third Lady Melania hört man nichts, obwohl sie eine Frau ist und kein alter weißer Mann.

3. Oktober 2020

Dreißig Jahre ist es nun her und ich weiß noch ganz genau, wie mir mein Großvater Werthers Echte aus dem Goldpapier wickelte. Nein, das ist natürlich purer Blödsinn: ich stand mit sehr jungen Kollegen in Eisenach auf dem Markt, sehr junge Menschen spielten Autokorso und schwenkten Fahnen aus offenen Wagenfenstern und grölten herum. Die Einheit war nun da und endlich konnten unsere Sportler dem Westen Medaillen gewinnen. Der Westen entdeckte den Medaillenspiegel für sich, den er früher lächerlich gemacht hatte, weil er für ihn immer nur hintere Plätze dokumentierte, es sei, es ging um Nobel-Sportarten wie Tennis, Ski Alpin oder auf Pferden über Hindernisse und durch Sand zu reiten. Gern gestehe ich, dass ich eine Weile brauchte, ehe mein Interesse für den Sport wieder in die Nähe des Levels geriet, das es seit den Tagen der Friedensfahrt und Täve Schurs nebst Bernhard Eckstein gehabt hatte, Klaus Ampler nicht zu vergessen. Fußball als die Ausnahme.

2. Oktober 2020

Was für eine Nachricht: Donald Trump und seine First Lady, die ja gar nicht seine First Lady ist, sondern seine Third Lady, sind mit Covid19 infiziert. Im Weißen Haus gingen Infizierte um, und mit denen gab es Kontakt. Für solche Kontakte brauchte Bill Clinton noch Zigarren und eine Praktikantin, wobei er sich nicht infizierte, sondern keinen Sex hatte. Jetzt also scheint der Liebe Gott in seiner Gerechtigkeit einen wie auch immer gearteten Denkzettel an den Mann zu geben, der vorsorglich das Ergebnis einer Wahl anzweifelt, die es noch gar nicht gegeben hat. Ich befasse mich mit in Ansbach geborenen Dichtern, da waren auch noch ein von Cronegk, ein von Soden und ein von Platen, letzterer irgendwie mit einem gewissen Heine ins Gemenge geraten. Ansbach brachte auch einen Hermann Fegelein hervor, welche die Schwester von Eva Braun ehelichte und damit in ein angeheiratetes Verwandtschaftsverhältnis zu einem gewissen Mann aus Braunau am Inn geriet.

1. Oktober 2020

Das letzte Quartal des Jahres beginnt damit, dass die Augenärztin Urlaub hat, bei der man sich ab heute neue Termine für die Jahre 2034 und 2035 holen konnte. Das Leben ist so. Für mich der erste Tag seit ziemlich langem, dass ich im Ilmenauer Stadtarchiv saß, eine Akte aus dem Jahr 1902 in Augenschein nahm, ohne sehr viel davon lesen zu können, das meiste aber war ohnehin zu speziell für meine Zwecke. Ich weiß leider nicht, ob es zum Ausbildungsinhalt für Archivarinnen gehört, freundlich und entgegenkommend zu sein, in Ilmenau kenne ich es, hatte es auch in Bad Kissingen. Immerhin lieferte ich selbst einen kleinen Text für die Bestände, der in der Goethe-Passage bis dato völlig unbekannt war. Ein gewisser Johann Peter Uz hat übermorgen seinen 300. Geburtstag, was ihn in Konflikt mit den offiziellen Feierlichkeiten bringt, die Aufmerksamkeitsökonomie betreffend. In Ansbach immerhin wird man seiner jedenfalls gedenken und ich bin in aller Stille auch an Bord.

30. September 2020

Der 30. September 2000 war ein Sonnabend, da wir innerhalb von 21 Stunden 1680 Kilometer fuhren bis nach Calais und wieder zurück nach Ilmenau, davon 300 Kilometer die Frau an meiner Seite. Unser Plan, in Eupen zu nächtigen, schlug fehl, weil sich kein freies Doppelzimmer fand. Nie war ich kaputter und näher am Sekundenschlaf am Steuer. Als wir am Hoverport ankamen, legte eines der Hovercrafts gerade ab, das nächste fuhr verspätet, es gab Tränen natürlich auch. Calais sahen wir später noch viermal. Und überquerten den Kanal selbst samt Auto in beide Richtungen. Damals hatten wir noch Respekt vor der französischen Autobahn wegen der Maut, als wir sie dann doch befuhren, mussten wir gar nicht zahlen. Wir hätten uns also ein paar Kilometer ohne Navi durch Dünkirchen sparen können. Der Mantel der Geschichte streifte uns nicht, erst ein Jahr später, als wir in Dover in den Küstenfelsen die unterirdischen Kommando-Bunker sahen mit Kanalblick.


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