Tagebuch

30. Januar 2022

Wann las ich zuletzt eine Dissertation komplett zu Ende vor diesem Sonntag Ende Januar 2022? Es ist auf alle Fälle sehr lange her. Ich hätte sie womöglich nie gelesen, wenn es nicht die Doktorarbeit von Arthur Eloesser gewesen wäre, verteidigt im Jahr 1893 an der Universität, an der ich auch fünf Jahre lang studierte. Sie hieß damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität und hatte Professoren und Dozenten, bei denen ich auch gern Vorlesungen gehört, in deren Seminaren ich gern gesessen hätte.  Ein Semester in Genf wäre mir nicht möglich gewesen. Damals konnte man nicht Professor werden, wenn man ein Jude war, es sei denn, man verabschiedete sich von seinem Glauben. Zu meiner Zeit konnte man fünf Jahre Philosophie studieren, ohne in der Partei zu sein, vier Jahre ein befristeter Assistent sein, ohne in der Partei zu sein. Dann wurde es aber langsam sehr eng. Eloesser ging zur Zeitung, als akademisch nichts weiter ging. Die Doktorarbeit aber ist seltsam lesertauglich.

29. Januar 2022

Ich weiß nicht, ob eine gelegentlich als Double der anderen auftritt: Jedenfalls erinnert mich ein Foto von Olga Tokarczuk heftig an Fotos von Juli Zeh. Macht aber nichts. Heute wird die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin 60 Jahre alt, wozu man Frauen im Allgemeinen und besonderen eher selten gratuliert. Sie erhielt den Preis für 2018 nachträglich und auf diesem Wege gemeinsam mit Peter Handke, der den Preis für 2019 einstrich. Er ist 20 Jahre älter als seine Kollegin und muss deshalb am Ende des Jahres schon seinen 80. feiern. Als ich mir „Der Schrank“ kaufte, eine dünne Sammlung von sieben Erzählungen Olga Tokarczuks, war sie noch weit vom Groß-Preis entfernt und sah auf der Umschlagklappe mädchenhaft aus. Das zum Beispiel schaffen Männer selten bis nie. Ein bisschen Wirbel verursachte Esther Kinsky 2019, als sie zehn Jahre verspätet erklärte, warum sie seit 2009 keine Tokarczuk-Bücher mehr übersetzt. Rein zufällig natürlich erst 2019.

28. Januar 2022

Es verblüfft schon, wenn man in einem gesamtdeutschen Antiquariat neubundesländlicher Prägung für ein Leipziger Reclam-Büchlein, einst gegen 2 Aluminium-Mark erhältlich, 15 bis 22 Euro auf den Tisch des Hauses legen soll und es liegt nicht einmal ein Aktfoto von Margot Honecker bei. Die Rede ist von „Die Tatarenwüste“ von Dino Buzzati. Die gab es zuerst 1942 auf Deutsch, da hieß sie noch „Im vergessenen Fort“, später hieß sie „Die Festung“ und dann wie im italienischen Original einfach „Die Tatarenwüste“. Die DDR, um bei ihr zu bleiben, in der wirklich nicht alles gut war, erlaubte Anna Mudry ein Nachwort ohne Marx und Engels, aber mit sehr viel Franz Kafka. Zuvor durfte schon der katholische Verlag St. Benno Buzzati drucken: „Die Mauern der Stadt Anagoor“. Und auch Christine Wolter nahm für ihren dicken Zweibänder mit italienischen Erzählungen einen Titel von Buzzati auf: „Panik in der Scala“. In deren Nähe starb der Autor am 28. Januar 1972.

27. Januar 2022

Es gab Zeiten, da hatte ich den Wunsch, an diesem Tag eine Rede zu halten auf dem Wetzlarer Platz. Mich bewegt Auschwitz, mich bewegen Sobibor und Belzec immer wieder und immer wieder wie beim ersten Mal. Ich überlegte, ob ich sagen dürfte, dass mein Vater in Auschwitz war, aber nicht als Häftling, sondern als Kriegsgefangener. Dass er entlassen wurde, weil die Russen Angst hatten, sich bei ihm mit TBC anzustecken. Wie sie rennen mussten in ihren Pantinen und dabei die Suppe verschütteten, die fürchterlich dünne Suppe aus Grassamen. Mein Vater sprach sehr selten davon und wenn, dann kamen ihm die Tränen. Ich habe auf dem Wetzlarer Platz gute Reden gehört und mäßige. Über einige berichtete ich, als ich noch einer war, der berichten musste. Das ist lange her. Heute würde ich wahrscheinlich ablehnen, wenn mich jemand fragte, ob ich nicht eine Rede halten möchte am 27. Januar. Ich denke jetzt eher an Riga, wo die Berliner Transporte landeten.

26. Januar 2022

Beinhaltet das Wort Hexenschuss nicht einen der letzten noch völlig unbekämpften, von schlimmer Diskriminierung geradezu triefenden Inhalte? Hexen, Frauen, Scheiterhaufen. Das Wort konstruiert, wir haben es gelernt. Den Hexer, den gibt es nur bei Edgar Wallace, wahlweise nach einer gewissen Zeit „Neues vom Hexer“, den Hexerschuss allerdings hat noch niemand diagnostiziert. Ich will nicht behaupten, ich hätte einen. Der Wahnsinnsschmerz in meiner linken Mitte, der mir das Aufstehen schwer macht, das Drehen zum Weinglas im Fernsehsessel zur Pein, kann auch ganz andere Ursachen haben. Dennoch gelang es mir, auf meinem nach vorn leicht abfallenden Sessel vor meinem Flachbildschirm den Text zu Johann Kaspar Steube zu einem leidlich befriedigenden Ende zu bringen, kleine Pointe inklusive. Nun geht es zu neuen Ufern. Vielleicht lasse ich mir meine nächste örtliche Betäubung beim Zahnarzt in den Rücken jagen. Wann aber fällt die an?

25. Januar 2022

Nicht auszudenken, was wäre, wenn die AfD verkündet hätte, unseren Bundespräsidenten Frank Steinmeier zu unterstützen. Dann hätte die SPD in den nächsten Jahren doch nicht alle Ämter bei sich, die man haben kann. So aber haut es nur einen Otto aus der Bahn, der sich mir noch nicht auffällig gemacht hatte, obwohl ich als Neffe eines Onkel Otto in Schweden, als Fan eines Onkel Otto im hessischen Fernsehen (vor Tausenden von Jahren) durchaus einer gewissen Otto-Nähe bezichtigt werden könnte. Während ich also bedauernd feststelle, dass der heutige 275. Geburtstag von Johann Kaspar Steube wahrscheinlich nicht einmal in Gotha mit einem Festakt gewürdigt wurde, sehe ich mich selbst in einer Bringeschuld. 2008 begann ich, damals noch in der Annahme, größte Zeitungen Thüringens könnten Honorare zahlen, etwas über Steube zu Papier zu bringen, was ich jetzt zum eigenen Erstaunen wiederentdeckte. Daraus erwächst ein Fortsetzungszwang.

24. Januar 2022

Mit dem heutigen Tag verliere ich einen Grund, einen Betriebsausflug in unseren Keller zu starten. Ich habe den letzten von 38 Jahrgängen des „Magazins“ nach oben geholt, wie alle vorigen 37 war er solide verschnürt, wie kein voriger aber bot er eine Überraschung. Meine Eltern, die vom ersten Heft 1954 an, ein Privileg, Abonnenten waren, haben das „neue“ Magazin ohne Klemke-Kater, mit sehr viel mehr Nacktheit, sehr viel mehr Erotik und bisweilen sogar Pornographie-Nähe, offenbar nicht mehr gelesen. Die Seiten klebten noch zusammen wie bei alten unaufgeschnittenen Büchern oder eben bei solchen, die noch nicht einmal durchblättert wurden. Hätte ich das gewusst, hätte ich nachfragen können. Nun geht das nicht mehr. „Das Magazin“ ist nach dem Tod meiner Mutter in die Erbmasse geraten, in die wertlose dazu, denn kein Antiquariat zeigte Interesse an diesen fast 40 vollständigen Jahrgängen. Nun schlachte ich sie aus. Was ich nicht brauche, wandert ins Altpapier.

23. Januar 2022

Muss ich eher froh sein, wenn ich etwas finde, was ich vor Jahren schrieb, aber vergessen hatte? Oder wäre es besser, in mich zu gehen und mir zu sagen: Du wirst alt? Natürlich werde ich alt, von denen, über die ich meistens schreibe, war eine auffallende Zahl in meinem Alter bereits tot. Walter Werner war 73, als er starb, mein Großvater Reinhold war 73, als er starb, bis dahin blieben mir vier Jahre mit etwas Glück. Mein Vater, Jahrgang 1921, sagte immer: Wenn ich das noch erlebe. Er hat mehr erlebt, als er erhoffte. Als seines 100. Geburtstags zu gedenken war im vorigen Jahr, war ich letzten Ende froh, dass mein Tagebuch ruhte und dass sich andere Dinge vordrängelten, auch wenn ich natürlich selbst bestimme, was sich vordrängeln darf und was nicht. Ich bin noch immer nicht allem gewachsen, was ich weiß, manches, was ich wissen könnte, habe ich noch nicht einmal bis zum Ende gelesen. Nichts wird häufiger begraben (außer den Toten natürlich) als ihre Geheimnisse.

22. Januar 2022

Es ist jetzt fast zehn Jahre her, dass Gisela Matzke, als Moderatorin des „Oberhofer Bauernmarktes“ vergessen, als unermüdliche Leserbrief-Schreiberin in „Freies Wort“ nahezu dauerpräsent, von ihrer lieben Heimat-Zeitung so zitiert wurde: „Ich hoffe sehr, dass Walter Werners 95. (und auch 100.) Geburtstag noch Erinnerungen an ihn wecken kann. Vielen herzlichen Dank für das diesjährige liebevolle An-Denken.“ Ja, das waren noch Zeiten, als man mit einem Blumenstrauß zu einer Walter-Werner-Lesung eilte in Bad Liebenstein. „Leicht ließ er Fremde nicht in seine Gedankenwelt schauen.“ Gisela Matzke wurde Mitglied im Zirkel schreibender Arbeiter im Bad Salzunger Kaltwalzwerk. Ach ja. Und dort lobte Walter Werner eine Geschichte von ihr, fünf oder sechs Sätze lang. Er war eben ein Netter, der Walter Werner. Der bisweilen sogar Sätze wie fürs Poesiealbum hinterließ. Heute ist der 100. Geburtstag und die Zirkelmitglieder schweigen gleich reihenweise.

21. Januar 2022

Natürlich steht der heutige 150. Todestag von Franz Grillparzer in meinem Kalender für mögliche Schreibanlässe. Zu mehr als einem Mitschnitt von „König Ottokars Glück und Ende“ in 3sat ist es nicht gekommen. Immerhin blicke ich auf zwei Beiträge im Jahr 2016 zurück, die leicht zu finden sind auf meiner Website: einmal zu Grillparzers Besuch bei Goethe, einmal zu Grillparzers „Der arme Spielmann“. Ich habe mir die Dünndruckausgaben des Österreichers besorgt, den man im Wiener Volksgarten als Denkmal-Figur besichtigen kann, was ich vor Jahr und Tag natürlich schon tat. In seinen auch in der DDR erschienenen „Reisetagebüchern“ finde ich mein Lesezeichen bei Seite 111 mit dem Bemerken „Goethe als Opfer eines Rasierunfalles“. Die „Selbstbiographie“ erwarb ich dereinst als Druck für die „Bibliothek des skeptischen Denkens“, ein Insel Taschenbuch mit dem schönen Titel „Gegen den Zeitgeist“ liegt für Notfälle in Griffnähe. Derzeit kein Notfall.

20. Januar 2022

Gestern meldete der Deutschlandfunk das Ende der Frist für den Jahrgang 1953, sich einen neuen Führerschein zu besorgen. Ich sofort ran an den PC, Termin besorgt für heute, es waren sämtliche Termine noch frei, heute zehn Minuten vorzeitig ins Amt marschiert, mit Impfnachweis, Maske, Personalausweis, Führerschein aus dem Jahr 1995 und einem biometrischen Passfoto. Die Eingabe meines Geburtsdatums am Terminal schaffte ich mit Hilfe eines freundlichen Bürgers in Uniform, bekam ein Zettelchen wie weiland im Arbeitsamt, kam aber sofort dran, weil vor mir null Wartende warteten. Drinnen gab ich ab, unterschrieb, zahlte am Automaten 25,30 Euro bar in Scheinen und Münzen, erhielt meinen ungültig gemachten Führerschein zurück, den ich mit einer Quittung vorzeigen muss, falls ich ihn vorzeigen muss, was in den zurückliegenden 27 Jahren exakt einmal vorkam. In vier Wochen darf ich mir die neue Karte abholen, benötige dafür aber einen Termin.

19. Januar 2022

Wenn man aus der Tatsache, dass es Straßen und Schulen gibt, die einen bestimmten Namen tragen, folgert, dass die Träger dieser Namen nicht vergessen sind, dann ist Max Tau unvergessen. Heute ist sein 125. Geburtstag zu begehen. Der Deutschlandfunk hat auch tatsächlich an ihn gedacht, das war es dann aber auch. Max Tau ist vergessen, auch sein Buch „Das Land das ich verlassen musste“ ist vergessen, der SPIEGEL hatte 1962 ein paar Zeilen dazu. Ich besitze das Buch, weil in ihm Arthur Eloesser vorkommt, was ich bei Andreas Terwey las, der nicht immer ein guter Ratgeber in Sachen Lektüre ist. Das Buch liegt noch ungelesen. Dafür aber las ich in den vergangenen Jahren sehr viel von Marie Luise Kaschnitz und die wiederum hat Max Tau entdeckt. Der auch überall als Entdecker von Wolfgang Koeppen gefeiert wird. Entsprechend haben beide Namen in dem Erinnerungsbuch auffällig viel Platz. Tau starb 1976 in Oslo, heute nennt man ihn einen „unermüdlichen Versöhner“.


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