Tagebuch

7. April 2020

Für diesen 7. April nahm ich mir vor, endlich einmal über Gustav Landauer zu schreiben, es ist sein 150. Geburtstag, es gibt eine neue Biografie über ihn, die noch gar nicht lieferbar ist, es gibt einige  Geburtstagsartikel natürlich auch. Doch seit Tagen stoße ich auf einen Widerspruch nach dem anderen über ihn, nicht zu reden vom sauischen Umgang der DDR mit seinem Erbe, dem sauischen Umgang der DDR mit dem, was mein Lieblingsautor Arnold Zweig über Landauer hinterlassen hat. Theaterhistoriker Günther Rühle behauptet dreist, Landauer habe am 7. April 1919 die Münchener Räterepublik ausgerufen, bei WIKIPEDIA fungiert Landauer als Shakespeare-Übersetzer, was an Blödheit kaum zu toppen ist: er hielt wunderbare Vorträge über Shakespeare, die Martin Buber nach der bestialischen Ermordung Landauers am 2. Mai 1919 posthum herausgab. Übersetzt hat er tatsächlich, nur eben leider nicht Shakespeare, viel Chaos auch zu den Details seiner Ermordung.

6. April 2020

Fast noch zu nachtschlafender Zeit hätte ich mich heute für nicht weniger als 150 Minuten in die sorgsamen Hände meines Zahnarztes begeben, die finale Terminkette zu beginnen, an deren Ende ich mit feinen Neu-Beißern meiner Eierlikörcreme zu Leibe werde rücken können. Die Schwester allein wäre die überzählige dritte Person schon gewesen in einer unerlaubten Zusammenrottung von Menschen, deren einer, ich, ohne Mundschutz hätte bleiben müssen, während die beiden anderen auch vor Corona schon immer mit Mundschutz an mir arbeiteten. Der Folgetermin am Donnerstag, bereits dreißig Minuten kürzer, hätte mir dann mehr als zwei Wochen Pause gelassen, am Tag der Befreiung wäre auch ich befreit worden, so aber verschiebt sich alles in eine ungewisse Zukunft. Immerhin las ich heute zum ersten Male in meinem ziemlich langen Leben meinen beiden Enkeln ein tschechisches Märchen per Skype vor, mein Märchen hieß „Die Waldfee“, sie tanzte und spann.

5. April 2020

Zu großem Ruhm ist er nie gekommen, denn er schrieb für Kinder und Jugendliche. Zwischen 1964 und 1969 las ich immerhin neun seiner Bücher, das älteste hieß „Das Geheimnis der schwimmenden Insel“, 1954 zuerst in Weimar erschienen. Heute vermute ich, dass meine Vorliebe für Inseln und Bücher über Inseln dort ihren Anfang nahm. Rudolf Weiß wurde am 5. April 1920 in Eisenach geboren, starb am 17. Dezember 1974 ebenfalls in Eisenach. Am 21. Januar 2014 informierte die TLZ ihre Leser, „Die letzte Fahrt der Bark Alexander“ sei anlässlich des 40. Todestages neu aufgelegt worden. Am 22. November 2019 fehlte bei WIKIPEDIA immer noch „Schüsse in den Anden“ (1966) im Werkverzeichnis, seit 2013 hat keine Überarbeitung dem abgeholfen. Sechs der neun Weiß-Bücher las ich zwischen Januar und Juli 1969 und in meinem großen Register hat „Es grünt die Saat“ ein kräftiges Ausrufezeichen. Doch nun zurück in die sonntägliche Corona-Welt.

4. April 2020

Es war zu erwarten: Der Corona-Fortsetzungsroman von Thomas Glavinic erreicht in der heutigen Ausgabe der WELT bereits seine 15. Fortsetzung und erstmals kommt ein Corona-Tagebuch aus Italien auf uns zu. Dort sind, während ich dies schreibe, vermutlich schon 15.000 Menschen an dem Virus gestorben und weil wir sonst den Tag über nichts von Corona vernehmen, ist es wichtig, uns jetzt Tagebücher italienischer Mathematiker auf den virtuellen Büchertisch zu schieben. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht die ersten Corona-Opern bereits komponiert werden, am Broadway könnte ein Musical über die Bühnen gehen, wenn Donald Trump nach der ersten Million Infizierter in seinem Land allem wieder freien Lauf lässt. Und Elfriede aus Mürzzuschlag, die Textflächenfrau, verquickt sie schon irgendein Euripides-Fragment mit dem Anschlag der Killer-Viren aus dem Fledermaus-Universum? Die Nähmaschine rattert auf dem Esstisch: Mundschutz nähen ist besser als schmähen.

3. April 2020

In der Mundschutznäherei Elke Ullrich gibt es familiäre Bedarfsanmeldungen aus räumlicher Ferne, das Probefoto mit Virustod vom unteren Brillenrand bis zum Kinn, farbiges Stoffmotiv Maske, fand begeisterten Beifall wie ihn sonst nur Erich Honecker nach einer Parteitagsrede einheimsen konnte. Mir begegnete gestern bereits eine kleine Dame mit Brille, die mich überaus freundlich begrüßte, dann in ein mir unbekanntes Auto ans Steuer stieg, von der ich bis eben nicht ahne, wer sie gewesen sein könnte. Zuvor hatte sie sich mit einer anderen mir unbekannten Dame unterhalten, die mich nicht grüßte, von mir aber wegen Mundschutzes auch nicht erkannt worden wäre. Wenn alles vorbei ist, werden vermummte Musliminnen uns vorkommen wie Erinnerungen an die schlechte alte Zeit mit Corona. In einem Text von mir aus dem September 2015 fand ich drei kleine Fehler und ein Wort, das durch ein anderes zu ersetzen war. Was will das heißen? Ich lese alte Texte wie fremde.

2. April 2020

Während unter den üblichen Verdächtigen noch halblaut oder schon mit leicht gepresster Stimme darüber nachgedacht wird, ob Szenarien der Rückkehr in eine so genannte Normalität gedacht und geäußert werden dürfen, sind wir in einem Punkt längst wieder in unserer altbekannter Normalität angekommen. Die Entwicklung des Gesellschaftsspiels Mundschutz zeigt es. Obwohl alle Experten sagen, der Mundschutz schütze seinen Träger nicht, andere allenfalls leicht, sind Zeitungen voll von Bastelanleitungen, Verwaltungen voll von Verpflichtungstext-Entwürfen und Kommentare in den Abendsendungen sagen auch schon, was tatsächlich geschieht: Symbolpolitik. Wir setzen Zeichen, respektive: wir befestigen uns Zeichen hinter den Ohren und signalisieren: wir tun was. Auch wenn das Tun sinnlos ist, können wir es immer solidarisch nennen. Statt wirklich gute Masken denen zur Verfügung zu stellen, die sie wirklich dringend brauchen, nähen wir uns Bettlakenteile fürs Gesicht.

1. April 2020

Gestern hätte ich, als Nachmittagsvorstellung, in Rudolstadt „Die Dreigroschenoper“ gesehen und heute schon „Sonny Boys“, und zwar im „Schminkkasten“, wo ich, etwa seit die Türken vor Wien standen, nicht mehr gewesen bin. Ich hatte Tisch 11, gute Sicht, gestern Reihe 6, gute Sicht auch im Stadthaus, aber es soll eben nicht sein. Zu „Lulu“ in Dresden am kommenden Sonnabend wären wir nicht gefahren, wohl aber steht Carl Sternheims „Kassette“ in Meiningen in meinem Kalender für April, die erste Premiere hätte ich nicht geschafft wegen der nun gestrichenen Reise, die zweite aber, die Mai-Reise ist noch nicht gestrichen, da wäre theoretisch zweimal Coburg möglich, aber eben nur theoretisch. Wir haben den Wocheneinkauf verlegt und sogar Klopapier in einem Regal gesehen, dafür fehlte in drei Märkten meine Zahnpasta, wer weiß, wer sich mit der den Hintern abwischt. Heute muss ich das Impressum einer heimischen Tageszeitung besichtigen, neugierig.

31. März 2020

Geschichtslehrer Oswald Theodor Ullrich und Geschichtslehrerin Gertrud Felicia Steinnagel haben am 31. März 1950 vor dem Standesamt Großbreitenbach die Ehe geschlossen. So steht es, mit Tinte und in Schönschrift geschrieben, in der Heiratsurkunde 9/1950. Heute wäre somit 70. Hochzeitstag für meine Eltern, geschafft haben sie nur den 54., ich bin ihnen auf den Versen, indem ich den 44. ansteuere. Noch vor einem Jahr richtete meine Mutter die alljährliche Frage an mich, ob ich wisse, welcher Tag heute sei: ich habe ihn gar nicht vergessen können. Die Eltern meiner Mutter lebten noch in Rantum auf Sylt, von den Eltern meines Vaters nur noch mein Großvater in Mühlberg. Am 18. November 1950 wurde meine Schwester Renate geboren, am 18. November 1950 starb sie auch und hatte nie einen Grabstein. Ich bin, solange die Kindergräber in Gehren nicht eingeebnet waren, oft an der Stelle gewesen, die mir meine Mutter gezeigt hatte. Irgendwann war dann alles weg.

30. März 2020

Ein historisches Ereignis ist an mir vorübergerauscht: ich sah die 1758., die allerletzte Folge der „Lindenstraße“ nicht, wie ich auch die vorangegangenen 1757 Folgen nicht gesehen hatte. Aus der Tagesschau erfuhr ich immerhin, dass Mutter Beimer Spiegeleier briet, wenn irgendeine Situation eintrat. Als Freund von Rühreiern ist mir somit manches Moment entgangen. Dafür hatten wir den Winter zurück, der vorher noch gar nicht dagewesen war, am Morgen heute mit fünf Minusgraden und schönen Fotomotiven von verschneiten Autos für die Lieben in der Ferne. Wegen geschlossener Tankstelle gestern kaufte ich die Sonntagszeitung am Montag, ein merkwürdiges Exemplar mit mehreren Feuilletonteilen, Reiseteilen und Wissenschaftsteilen. Vermutlich lief die Sortiermaschine Amok. Zum 80. Geburtstag von Uwe Timm ergänzte ich ein wenig mein Archiv, besitze selbst nur armselige drei Bücher von ihm, zwei davon noch aus tiefen DDR-Zeiten, eins aus dem Westen.

29. März 2020

Weil ich mir eigens eine Vormerknotiz in meinen Kalender schrieb, folge ich ihr. Am 29. März 1995 hatte meine liebe Gattin die sehr undankbare Aufgabe, mich nach Suhl zu transportieren, von wo ich mit diversen Kollegen nach Frankfurt am Main transportiert werden sollte, um mit dem ersten Flug meines Lebens nach Barcelona zu fliegen. Unglücklicherweise war dieser 29. März vor 25 Jahren Tag einer Schneekatastrophe, alle kamen überall zu spät, wir schließlich auch zum Flugplatz und mussten deshalb ungeplant mit dem Bus Richtung Lloret de Mar fahren, wohin unsere noble Firma eine so genannte Pressereise organisiert hatte. Zur Tarnung waren etwa ein halbes Dutzend Journalisten aus dem Haus dabei, der Rest kam aus Geschäftsführung und Verwaltung, ich besitze die Teilnehmerliste noch und könnte es belegen. Ich teilte mein Doppelzimmer mit Knut Wagner, dessen Roman „Prinz Homburg und die Schwalben“ (1981) leider sein einziger geblieben ist.

28. März 2020

Nun habe auch ich ihn gesehen: meinen ersten Menschen mit Mundschutz auf offener Straße. Er hatte sich einen Coffee to go aus der Tankstelle geholt und bewegte sich nun mit seiner gewohnten Grundgeschwindigkeit wegwärts, vermutlich in Richtung seiner Garage. Ich beschreibe diese Grundgeschwindigkeit gern vergleichend, indem ich sage: Mit dem Tempo schaffst du es nicht zur Fluchttreppe, wenn es im Altersheim brennt. Das ist natürlich ein wirklich schlimmer Vergleich und ich schäme mich ziemlich regelmäßig, wenn ich ihn verwendet habe. Und überlege zeitgleich, wie man mit Mundschutz aus dem Pappbecher trinkt. Gut. Sophie Mereau ist in manchen Quellen am 27. März 1770 geboren, in manchen am 28. März 1770, und einige ganz pfiffige Quellen schreiben: am 27. oder 28. März. Fünf ihrer sechs Kinder sind vor ihr gestorben, bei der Geburt des sechsten starb sie selbst, es war auch schon tot, als es zur Welt kam. So war das früher: Tod durch Geburt.

27. März 2020

Der Schrittzähler, den ich anfassen darf, ohne vorher meine Hand desinfiziert zu haben, zeigt heute erstmals wieder eine fünfstellige Zahl. Erwandert auf der Bücheloher Straße bis zum Baumarkt und wieder zurück. Es gibt zugegebenermaßen schönere Strecken, aber an einem solchen Freitag, da ich tatsächlich noch mit meinem zweiten großen Heinrich Mann fertig wurde rechtzeitig zu seinem 149. Geburtstag, zugleich zum 41. Todestag von Alfred Kantorowicz, den ich gleich mit durch den Wolf drehte, sind selbst Radwege an Bundesstraßen, zumal ohne Radfahrer, durchaus angenehme Wege. Natürlich ist mir auch bewusst, dass heute schon wieder ein halbes Jahr vergangen ist, seit meine Mutter starb. Noch immer sind Haufen in unseren Zimmern, die es nicht gäbe, hätte es keinen Nachlass zu regeln gegeben. Die werden auch so schnell nicht verschwinden. Was unverdrossen funktioniert, sind die Rechnungslegungen unserer Zahnärzte, die vorläufig vorletzte lag im Kasten.


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