Tagebuch

15. April 2020

Ich müsste nachlesen, ob ich an einem 15. April schon an die Toten dachte von Jean-Paul Sartre und Jean Genet bis zu Robert Musil und Ulrich Becher. Geschrieben habe ich über Ulrich Becher erst heute. Den Frost müsste ich erwähnen, der gestern und heute Morgen noch sichtbar war, als ich meinen Aufwachblick aus dem Fenster warf. Vermutlich schrieb ich auch schon irgendwann, dass ich am 15. April 1995 direkt neben dem Genter Altar stand, ohne es zu wissen und dann später die Stadtführerin verfluchte, weil die nicht sagte, man müsse extra zahlen, um den Altar zu sehen. Sie kannte die deutschen Geizkragen sicher bestens, die bei Busreisen zusätzlichen Eintritt hassen wie  Veganer ein Leberwurstbrot und seine Vertilger. Erstaunliche Funde mache ich derzeit in uralten DDR-Anthologien: Ich finde Stephan Hermlins Stalin-Hymne und Erwin Strittmatters „Aus dem Tagebuch eines Braunkohlenhäuers“. Schön viel Stalin noch 1953, selbst ich wurde eigens geboren.

14. April 2020

Heute hat einer seinen 100. Geburtstag, der nicht in Vergessenheit geraten konnte, weil ihn ohnehin niemand kannte: Erwin Bekier, einer der fleißigsten Autoren der DDR-Literatur, dem die Bücher, vor allem aber die Hefte und Broschüren, fast wie vom Fließband rollten. Allein in der „Tatsachen“-Reihe des Militärverlages veröffentlichte er insgesamt 15 Titel, davon zwei unter neuer Nummer sogar doppelt. Die Reihe brachte es zwischen 1961 und 1990 auf stolze 342 Hefte. Nur ein einziges Buch von ihm behielt ich, als ich im Zuge der großen Nachlassauflösung im Oktober Platz schaffen musste: „Die Insel der sieben Schiffe“, gelesen im April 1967. Drei Jahre später war dieses Buch aus dem Kinderbuchverlag Berlin das erste, in das ein lebender Autor ein Autogramm für mich schrieb: „Für Eckardt von Erwin Bekier, 2. Juni 1970“. Mein Vorname doppelt falsch. Das prägt. Es dauerte bis 1974, ehe ich das nächste Autogramm einsammelte: Von Heiner Rank in „Autodiebe“.

13. April 2020

Am 13. April 1995 traten wir unsere kleine Flandernrundfahrt an mit den Stationen Antwerpen, Leuven, Gent, Brügge und Oostende. Zweimal vorher war die Reise abgesagt worden, weil es zu wenig Interessenten gab. Unser Ausgangsquartier wurde ein Hotel „Fimotel“ im Gewerbegebiet am Rande von Brüssel, nicht weit vom NATO-Hauptquartier, das ich schon kannte und noch mehrfach sah. In Antwerpen und Gent war ich bis heute nicht wieder, in Brügge, Oostende und Brüssel dafür oft. Der 13. April war ein Donnerstag, wir waren zeitig genug am Ziel, um noch eine Rundfahrt mit mehreren Haltepunkten durch die belgische Hauptstadt zu absolvieren. Manneken Pis trug an diesem Tag etwas wie einen weiß-blau-türkisen Jogginganzug, um den Hals ein Mikrofon und Kopfhörer. An Stephan Hermlin dachte ich mit Sicherheit nicht, der seinen 80. Geburtstag feierte und noch nicht als der große Lügner der DDR-Literaturgeschichte galt wie anderthalb Jahre später.

12. April 2020

Dass dies der erste Ostersonntag sein würde, an dem meine Mutter nicht am Mittagstisch sitzt und sich sogar ein Schlückchen Rotwein einschenken lässt, dessen Rest ich dann austrinken muss, war absehbar. Dass wir ganz allein sein werden, nicht. Kein Kind, kein Enkel, Oma ohne Uroma und abends erklärt Bill Gates, der Experte für Pandemien, dass das nächstes Ostern womöglich immer noch so sein wird, aber wir sollten vielmehr online tun. In den ärmsten Ländern wird womöglich auf dem brutalstmöglichen Weg das Bevölkerungswachstum gestoppt. Online Urlaub machen ist aber definitiv Scheiße. Im virtuellen Buschenschank kann man sich womöglich zuprosten, aber man rückt nicht zusammen, wenn noch ein Platz fehlt, man trifft auch nicht die, die man jedes Jahr trifft. Wann werden die ersten Frauen von den Balkonen springen, nachdem sie acht Wochen nicht beim Frisör waren und sich morgens im Spiegel nicht erkannten? Und nachher ist nichts mehr wie vorher.

11. April 2020

Simone Thomalla hat heute Geburtstag, die ich nicht so mag. Stefanie Stappenbeck hat heute auch Geburtstag, die mag ich, seit sie an die Stelle der leider verstorbenen Maja Maranow trat, die ich noch mehr mochte. Dem 100. Geburtstag von Marlen Haushofer habe ich meinen zweiten Versuch zu ihr gewidmet, weitere werden bei passender Gelegenheit folgen. Ein ungeplanter Text ist heute fast nebenbei entstanden, außerdem bewegten wir uns auf dem Ilmenauer Rundwanderweg auf Pfaden, die wir noch nie gesehen hatten, das Ergebnis: die 12.000 Schritte wieder einmal erreicht. Wein aus der Wachau traf ein und führt somit vor, dass dieser Weg auch funktioniert. Das eröffnet neue Chancen für Jahre, da wir, wie in diesem Jahr, nicht nach Weißenkirchen fahren. Wir müssen nicht auf unsere Lieblingströpflein verzichten. Von denen es mehrere gibt. Auf dem Balkon mit Kuchen und Kaffee, zu Ostern eher selten in den vergangenen Jahren, das Wetter spielt noch mit.

10. April 2020

Nicht einmal die Medaillenspiegel Olympischer Spiele oder Leichtathletik-Weltmeisterschaften studierten wir, als die DDR noch alles gewann, so aufmerksam Tag für Tag wie diese Corona-Statistiken auf den Textseiten 812 ff im ARD-Videotext. Unsere amerikanischen Freunde haben derzeit herbere tägliche Verluste als im Vietnamkrieg und das war, wie wir gesamtdeutsch damals dachten, ein schmutziger Krieg. Zugleich rückt der Tag immer näher, da unsere erste diesjährige Reise gen Italien gegangen wäre. In meiner Duschkabine erzeuge ich Italien-Feeling mit den noch vom Vorjahr stammende Gelen „Leocrema Solare“ und „Genera Mentolo-Aloe“, zu Mittag essen wir „Spaghetti Frutti di Mare“ und auf dem Balkon mit Blick auf unerlaubte Zusammentreffen von vier Personen, die nicht unter einem Dach wohnen, erinnern wir uns der Karfreitags-Prozession auf Procida. Die zweite Italienreise 2020 werden wir erst im Mai vermissen, es bleibt noch etwas Zeit.

9. April 2020

Man trifft, wenn man der Gesundheit wegen im Niemandsland zwischen Unterpörlitz und Heyda wandert, Menschen mit Hunden, die sagen, dass hier sonst nie Menschen mit Hunden unterwegs sind, was wir insofern beweisen, als wir ohne Hund marschieren. Wir hören von Redaktionen, die ihre freien Mitarbeiter gar nicht mehr bezahlen, von Redaktionen, die ihre Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken und Überstunden abbummeln lassen. Woran ich erkenne, dass meine Zeitungszeiten lange vorbei sind. Das Höchste, was ich als Chef je schaffte, war es, den Anspruch meiner Leute auf freie Tage aus Wochenend- und Feiertagsdiensten zu reduzieren. Was Überstunden sind, wussten wir zwar, kannten auch Regelungen der Tarifverträge, an die sich unsere Arbeitgeber nicht gebunden fühlten, mehr aber war nie. Heute sind die Zeitungen, die ich donnerstags kaufe, bei gleichem Preis dünn zum Erbarmen. Die Post trifft alle an, die sonst arbeiten, muss keine gelben Zettel ausfüllen.

8. April 2020

Kaum habe ich WIKIPEDIA-Blödsinn zu Gustav Landauer vermeldet, muss ich schon nachlegen. Die Internet-Enzyklopädie behauptet, Albert Ehrenstein, der am 8. April 1950 in New York ganz jämmerlich starb nach einem Schlaganfall, der ihn bis auf seine Augen lähmte, habe auf jener berühmt-berüchtigten Liste der Deutschen Studentenschaft gestanden, nach deren Vorgabe am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz stattfand. Klingt gut, stimmt nur leider nicht. Es gab nur eine Liste in Halle an der Saale, die der genannten Liste Ehrenstein (und einige andere) anfügte, da ging es aber vor allem um das Aussondern aus den Bibliotheken. Es gilt noch immer: Wer verbrannt wurde, darf aus dem Unterdeck des Dampfers der Vergessenen hinauf aufs Promenadendeck, als hülfe ihm das mehr. Albert Ehrenstein schrieb am 17. August 1925 an Stefan Zweig: „Lieber Zweig, leider bin ich noch immer auf keinen grünen gekommen.“ So ist es.

7. April 2020

Für diesen 7. April nahm ich mir vor, endlich einmal über Gustav Landauer zu schreiben, es ist sein 150. Geburtstag, es gibt eine neue Biografie über ihn, die noch gar nicht lieferbar ist, es gibt einige  Geburtstagsartikel natürlich auch. Doch seit Tagen stoße ich auf einen Widerspruch nach dem anderen über ihn, nicht zu reden vom sauischen Umgang der DDR mit seinem Erbe, dem sauischen Umgang der DDR mit dem, was mein Lieblingsautor Arnold Zweig über Landauer hinterlassen hat. Theaterhistoriker Günther Rühle behauptet dreist, Landauer habe am 7. April 1919 die Münchener Räterepublik ausgerufen, bei WIKIPEDIA fungiert Landauer als Shakespeare-Übersetzer, was an Blödheit kaum zu toppen ist: er hielt wunderbare Vorträge über Shakespeare, die Martin Buber nach der bestialischen Ermordung Landauers am 2. Mai 1919 posthum herausgab. Übersetzt hat er tatsächlich, nur eben leider nicht Shakespeare, viel Chaos auch zu den Details seiner Ermordung.

6. April 2020

Fast noch zu nachtschlafender Zeit hätte ich mich heute für nicht weniger als 150 Minuten in die sorgsamen Hände meines Zahnarztes begeben, die finale Terminkette zu beginnen, an deren Ende ich mit feinen Neu-Beißern meiner Eierlikörcreme zu Leibe werde rücken können. Die Schwester allein wäre die überzählige dritte Person schon gewesen in einer unerlaubten Zusammenrottung von Menschen, deren einer, ich, ohne Mundschutz hätte bleiben müssen, während die beiden anderen auch vor Corona schon immer mit Mundschutz an mir arbeiteten. Der Folgetermin am Donnerstag, bereits dreißig Minuten kürzer, hätte mir dann mehr als zwei Wochen Pause gelassen, am Tag der Befreiung wäre auch ich befreit worden, so aber verschiebt sich alles in eine ungewisse Zukunft. Immerhin las ich heute zum ersten Male in meinem ziemlich langen Leben meinen beiden Enkeln ein tschechisches Märchen per Skype vor, mein Märchen hieß „Die Waldfee“, sie tanzte und spann.

5. April 2020

Zu großem Ruhm ist er nie gekommen, denn er schrieb für Kinder und Jugendliche. Zwischen 1964 und 1969 las ich immerhin neun seiner Bücher, das älteste hieß „Das Geheimnis der schwimmenden Insel“, 1954 zuerst in Weimar erschienen. Heute vermute ich, dass meine Vorliebe für Inseln und Bücher über Inseln dort ihren Anfang nahm. Rudolf Weiß wurde am 5. April 1920 in Eisenach geboren, starb am 17. Dezember 1974 ebenfalls in Eisenach. Am 21. Januar 2014 informierte die TLZ ihre Leser, „Die letzte Fahrt der Bark Alexander“ sei anlässlich des 40. Todestages neu aufgelegt worden. Am 22. November 2019 fehlte bei WIKIPEDIA immer noch „Schüsse in den Anden“ (1966) im Werkverzeichnis, seit 2013 hat keine Überarbeitung dem abgeholfen. Sechs der neun Weiß-Bücher las ich zwischen Januar und Juli 1969 und in meinem großen Register hat „Es grünt die Saat“ ein kräftiges Ausrufezeichen. Doch nun zurück in die sonntägliche Corona-Welt.

4. April 2020

Es war zu erwarten: Der Corona-Fortsetzungsroman von Thomas Glavinic erreicht in der heutigen Ausgabe der WELT bereits seine 15. Fortsetzung und erstmals kommt ein Corona-Tagebuch aus Italien auf uns zu. Dort sind, während ich dies schreibe, vermutlich schon 15.000 Menschen an dem Virus gestorben und weil wir sonst den Tag über nichts von Corona vernehmen, ist es wichtig, uns jetzt Tagebücher italienischer Mathematiker auf den virtuellen Büchertisch zu schieben. Ich bin mir nicht sicher, ob nicht die ersten Corona-Opern bereits komponiert werden, am Broadway könnte ein Musical über die Bühnen gehen, wenn Donald Trump nach der ersten Million Infizierter in seinem Land allem wieder freien Lauf lässt. Und Elfriede aus Mürzzuschlag, die Textflächenfrau, verquickt sie schon irgendein Euripides-Fragment mit dem Anschlag der Killer-Viren aus dem Fledermaus-Universum? Die Nähmaschine rattert auf dem Esstisch: Mundschutz nähen ist besser als schmähen.


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