Tagebuch

5. März 2020

„Leben mit Corona“ lese ich in fetten Lettern gleich mehrmals und es geht nicht um Goethe, obwohl der gern mit Corona gelebt hätte. Aber das waren andere Zeiten und Corona nicht die kleine Schwester von Sars. Seine Corona kam nicht aus Italien, obwohl er eigens dorthin fuhr, dafür starb sie in Ilmenau und liegt dort auch, wenngleich ihre Grabstätte nicht ganz am richtigen Platz ist. Wir haben alle unseren Bodo wieder, es freute sich vor laufenden Kameras auch die Dame mit den schwarzen Haaren, die neben Bernd, dem Riexinger-Brot saß, als vor beiden die kleine mit dem Killerinstinkt die Vision hatte, Zahnärzte und Urologen, die Reichen also, zu erschießen. Noch ist der gestrige Befund zutreffend: die öffentlich-rechtliche Verschweigefront. Wen ich heute nicht verschweige, ist Fritz Usinger, der mir sogar die Gelegenheit gibt, nach einer Pause wieder einmal auf Marie Luise Kaschnitz zu kommen. Leben also mit Marie Luise und Fritz, mein Donnerstag.

4. März 2020

Wäre ich ein soziales Medium, müsste ich von meinem Erregungsamok heute schlapp auf dem Bauch liegen. Ein Revolutionstrinchen faselt vor laufenden Kameras davon, dass nach der Revolution ein Prozent der Reichen erschossen werde. Bernd, das Brot Riexinger, dementiert in seiner bekannt schlappen Art, es werde keine Erschießungen geben, aber nützliche Arbeit. Alles bei einer Strategie-Konferenz der Linken. Kaum auszudenken, was durch die Medien gerast wäre, hätte irgendein Klein-Nazi auf irgendeiner AfD-Konferenz vom Erschießen ganzer Bevölkerungsgruppen gekräht. So aber mediale Funkstille in den Haupt- und Staatsmedien, die stattdessen Menschen zu Wort kommen lassen, die einen ungebremsten Zustrom potentieller Corona-Überträger befürworten. Die Buchmesse in Leipzig wird abgesagt, Reisen werden abgesagt, hier aber bestünde keine Gefahr. Riexinger war übrigens von keinen guten Geistern verlassen, wo hätten die bei ihm Platz gehabt?

3. März 2020

Aktualität war gestern. Man kann den verehrten Print-Kollegen, die sich am Freitag in Meiningen langweilten, nicht anlasten, dass die Formulierungen ihres Gelangweiltseins erst volle vier Tage später in den Blättern ihrer Wahl prangen. Selig die Zeiten, da eine schnelle Kritik schon in der Morgenausgabe stand und die ausführliche (das gab es tatsächlich) dann in der Hauptausgabe. Ich habe den Vorteil davon, nicht lesen zu können, was sie gesehen haben, sie haben den Nachteil davon, unter Umständen schon lesen zu müssen, was ich sah und meinte. Für das Theater sind es am Ende immerhin drei Sehweisen, wenn wir die Main-Post einmal ausklammern, die die Besucher aus den uralten grenznahen Ländern anzulocken oder abzuschrecken hat. Immerhin: wenn die vor sich hin sterbenden Zeitungen einmal erkannt haben, dass sie der Realität ohnehin nur hinterher rennen, dann gilt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Aktualität war vorgestern.

2. März 2020

Es haben mir, während ich keine e-mails las, doch noch einige Leute zum Geburtstag gratuliert. Was schön ist. Am Morgen und bis Mittag schrieb ich fleißig über einen Mann, dessen Namen ich noch vor wenigen Jahren nicht einmal gehört hatte. Am kommenden Sonntag feiern Menschen in seiner Heimatstadt den Jahrestag seiner Geburt, den ich schon am Donnerstag feiere, da ist nämlich sein Geburtstag. Er heißt Fritz und war Hesse. Zwischen frühem Nachmittag und beginnendem Fernsehabend genoss ich die Folgen von fünf Betäubungsspritzen im Mundraum, das Blut, das aus mir floss, bemerkte ich nicht wegen völliger Gefühllosigkeit. Dafür blieb danach jeder Schmerz aus, meine Zunge berührt jetzt Fremdkörper in Ober- und Unterkiefer, Fäden, die in zehn Tagen gezogen werden. Das Abendessen, als ich es einnehmen konnte, schmeckte seltsam, der Wein später aber wieder fast wie in besten Zeiten. Wir schauten Franken-Tatort von gestern zum Wachau-Riesling.

1. März 2020

Meine Kritik steht im Netz, sie ist länger geworden und hätte noch länger sein können. Der ewige Sturm nervt langsam. Die Reiseabsage eröffnet immerhin die Perspektive auf eine weitere Premiere in Meiningen, die ich sonst nicht hätte wahrnehmen können. Ich sprach am Freitag im Foyer mit einem Kollegen aus uralten Hochschulzeiten, der sich entschuldigte, mich erstens nicht erkannt und zweitens meinen Namen nicht mehr gewusst zu haben. So geht das, wenn man Jahrgang 1934 ist. Namen fallen einem auch früher schon nicht immer gleich ein. Ob sie nun Schall und Rauch sind oder nicht. Meine Festgäste werden heute erst am frühen Abend erwartet. Der ältere Herr, der ich nun bin, darf sich noch etwas ausruhen, ehe er das Sektglas mit Prickel von der Nahe, sortenreiner Riesling-Sekt, extra dry, auf sich und seine Gesundheit erhebt, den einstimmenden Chor erwartend. Ein Geschenk verrate ich: Fünf sehr feine Bände „Gesammelte Schriften“ von Siegfried Jacobsohn.

29. Februar 2020

Nachtrag: Ich schreibe ohne große Hast meine Kritik, die mindestens drei Print-Kollegen, die ich sah, werden frühestens am Montag präsent sein, mir reicht deshalb der Sonntag gut und gern. Für Nachtkritik war offenbar niemand präsent, was wenig bedeutet. Man schreibt dort lieber von einem launigen neuen Metadiskurs über Trash und Theater, was zwar nicht ganz so dringend scheint wie die Hysterie um unseren neuen Freund aus der Familie der Viren, aber so schnell ist mit einem frischen Text nicht einmal Elfriede Jelinek. Uns hat Corona bereits ein erstes Todesopfer beschert: wir müssen mit einer Reiseabsage für Ende April umgehen, es wäre Italien gewesen. Ob es einen neuen Termin geben wird, ist noch nicht ganz sicher. Ob wir zum neuen Termin können und wollen, ist ebenfalls nicht ganz sicher. In den Stadien Deutschlands ist heute Hopp-Beleidigung angesagt, es wird nur eines helfen: Täter-Identifizierung und lebenslange Stadion-Verbote. Keine Sonntagsreden.

28. Februar 2020

Nachtrag: Finstere Okkupanten besetzen zum letzten Frühstück dieser Kurzreise unseren Tisch 52. Was nicht gegen die Regeln verstößt, wohl aber meine Morgenlaune dämpft. Neue Erkenntnis dieser Reise: Frauen wühlen signifikant häufiger als Männer im Obstsalat, bis sie haben, was sie wollen. Frauen wühlen auch signifikant häufiger in Asia-Nudeln mit Garnelen, bis sie acht Garnelen auf dem Teller haben und kaum Nudeln. Neue Erkenntnis weiterhin: In der Salinenstraße sind keine Spuren von und zu Fontane zu erkennen, ich muss zu Hause überprüfen, ob meine Vermutungen zutreffend sind. Zu Hause bleibt Zeit für einige restliche Notizen zu Tennessee Williams, ich fahre sehr gut vorbereitet gen Meiningen und habe dort in der ersten Reihe des zweiten Parketts einen sehr guten Platz. An der Garderobe muss ich erstmals nach langen Meiningen-Jahren meine Karte vorzeigen: die Garderobiere macht das immer so, sagt sie, ich war offenbar nie in ihren Händen.

27. Februar 2020

Nachtrag: Das nahe andere Zimmer hat Ausblick auf das gegenüber liegende, leer stehende Hotel, die Kirche, auf die wir gestern noch von oben schauten, liegt nun seitlich. Nach dem Frühstück klopft es, eine Dame kommt mit einem Kuchen auf einem Teller mit Schoko-Schriftzug „Herzlicher Glückwunsch“ und zwei weiteren Tellern nebst Messern und Gabeln, weil heute mein Geburtstag ist. Wir verspeisen den Kuchen in einer späteren Sauna-Pause. Den Kaffee dazu holen wir selbst an der Bar. Mein Werklein zu Iwan Goll steht im Netz, mein Werklein zu Ludwig Rubiner ist um drei Monate zu einem anderen passenden Termin geschoben, dafür lese ich im Hotel noch dem Rest von „Süßer Vogel Jugend“ und ein längeres Kapitel aus den Memoiren von Tennessee Williams, wo ich Dinge erfahre, die ich so genau gar nicht wissen wollte. Es kommen Geburtstagswünsche von den Galapagos-Inseln, woher ich weniger als selten Geburtstagswünsche erhalte: Freude umso größer.

26. Februar 2020

Nachtrag: Erst zum zweiten Male siedeln wir in unserem Hotel in Bad Kissingen in der vierten Etage und es begann mit einer mittleren Ärgerlichkeit: der Tiefgaragenplatz war nicht reserviert. Folgte die zweite mittlere Ärgerlichkeit: Auf der Innenseite der Balkonschiebetür tropfte es auf den Leichtmetallrahmen, was unangenehme Geräusche macht. An der Rezeption freundliche Auskunft: der Techniker kommt sofort. Kam aber nicht, denn in Kissingen, was wir nicht wussten, werden am Faschingsdienstag ab 13 Uhr die Bürgersteige eingerollt wie in Süditalien am Ostermontag: nichts geht mehr, alles ist geschlossen. Als wir nach dem üblichen Erstspaziergang zur fränkischen Saale wieder im Zimmer sind, ist alles still, nichts tropft, der Techniker war da. Irrtum, spricht der Igel bekanntlich, wenn er von der jeweiligen Klobürste klettert: 4.54 Uhr erwache ich heute, weil es laut und lauter tropft, nichts hilft. Mittags tropft es immer noch, wir ziehen in ein nahes anderes Zimmer.

25. Februar 2020

Als Kind war ich oft krank, wenn die närrischen Tage ihren so genannten Höhepunkt erreichten, jetzt bin ich, wenn ich von den da und dort schmerzenden Stellen absehe, die ich dem Alter in die ausgelatschten Schuhe schiebe, halbwegs gesund. Weshalb ich, eines nahenden Festtages wegen, die heimatlichen Gefilde verlasse, um ein wenig Wellness plus üppige Halbpension über mich ergehen zu lassen. Das abendliche Hauptgetränk wird ein Silvaner aus der Literflasche sein. Falls ich auch in diesem Jahr wieder eine nette Karte von meinem Bundestagsabgeordneten bekomme, dazu eine nicht weniger nette Karte von meinem Landtagsabgeordneten, dann werde ich sie erst lesen, wenn der Jubel schon ein Ende hatte. Immerhin: als ich letzten Sonnabend mit sehr vielen Schritten in Beinen und Füßen die Leibnizstraße überquerte, stand da mein Bundestagsabgeordneter auf dem Bürgersteig, mit dem Mitteldeutschen Rundfunk telefonierend. Schweigen bis Freitag.

24. Februar 2020

In Wien hat einer, dessen Name hier verschwiegen wird, aus „Othello“ und „Der Kaufmann von Venedig“ eine Wiener Burgtheater-Melange gequirlt, weil ihm offenbar aufgefallen war, dass beide Stücke in Venedig spielen. Granaten-Idee das, die ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, was man alles in einen Theaterabend mixen kann, nur um kein Stück spielen zu müssen, wie es geschrieben steht. Auch ist die Idee, einen städtischen Handlungsort herauszugreifen, ja nur ein bescheidener Anfang. Man könnte Stücke mit Förstern verhäkeln oder Stücke, die an Waldrändern spielen. Tante Emmi in Iwan Golls „Methusalem“ schlägt vor, die Zensur möge die Gretchen-Rolle aus dem „Faust“ tilgen, weil Träumen in die sittliche Verderbnis führt. Falls es den Linken im Osten gelingt, die CDU zurück in ihre Blockpartei zu verwandeln unter dem Label Verantwortung, dann wäre das etwas fürs Buch mit Treppenwitzen der Geschichte. Dann müsste Gretchen nur noch ein schwuler Mann sein.

23. Februar 2020

Für alle, die nicht wissen, was Entwertung von Begriffen ist: in Amerika sagt jeder Dödel vor nahezu jedem Wort, das er sagt, sehr viele kennt er meist gar nicht, „Fucking“. Wenn aber alles in dieser Nicht-Sprache Fucking ist, dann ist nichts Fucking. Früher hätte man das Logik genannt. Oder Fucking Logik, also etwas für alte weiße Männer. Wenn einer alles Sexismus, Chauvinismus oder Beleidigung nennt, was ihm gerade so aus dem Papierkorb an der Straßenecke ins Gesicht weht, dann haben die Begriffe keinen Sinn mehr, sie sind leer, genauer fucking leer. Am Abend ein Tatort, der keiner war, die Ermittler ermittelten nicht, die Spannung hatte Haushaltstag. Dafür bumste alles so ausdauernd und hairy wie in den letzten 82 Tatorten zusammen nicht. Kommt da eine fucking Sexwelle auf uns a la 1968, als die alten weißen Männer noch taillierte Hemden trugen und Schmalzlocken nach innen gerollt wurden? Wir sind, heißt das, wieder zu Hause. Bye, bye.


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