Tagebuch

19. März 2020

Nein, Deutschland ist keinesfalls das Land der Dichter und Denker. Deutschland ist das Land der nichtdenkenden Vollidioten, die Corona-Parties feiern und das Land der Hamsterkäufer. Ich bin normalerweise an Donnerstagen nach dem Gang zum Bäcker (der wegen Mangels an Klopapier und Haferflocken-Sortimenten Normalbetrieb fahren kann) fast allein auf dem Parkdeck des Ilmenauer „Kauflands“. Vorige Woche stand erstmals ein blauer Kleinwagen auf meinem „Stammplatz“, den ich nur höchsten fünf Minuten brauche für meine Zeitungen. Heute wieder der kleine Blaue, aber das halbe Parkdeck voll und das 7.15 Uhr. Die Rolltreppe nach unten: normalerweise eile ich langen Schrittes auf ihr hinab: heute stehe ich hinter drei Wagenschiebern und während ich noch abwärts schleiche, rollen erste Wagen bepackt wie für eine sechsmonatige Nordpolexpedition aus dem Markt. Der Mann vor mir roch, als wäre ihm sein Duschgel kurz vor den Herbstferien ausgegangen.

18. März 2020

Als Erich Fromm am 18. März 1980 in Muralto in der Schweiz starb, ahnte ich nicht, dass einer meiner Mitstudenten, der sich in seiner Diplomarbeit mit Fromm beschäftigte, gleichzeitig ein sehr emsiger Zuträger für die grauen Kampfgenossen in der Berliner Normannenstraße war. Mich hatte es zwar immer gewundert, dass IM „Fischer“, wie er auf eigenen Wunsch geführt wurde, sich ausgerechnet mit diesem Mann beschäftigte, der der offiziellen Lehre nach untaugliche Versuche unternahm, Marxismus und Psychoanalyse zu vereinen, aber weitere Überlegungen stellte ich zum Sachverhalt nicht an. Als die DDR dann hinschied, kaufte ich mir als erstes Fromm-Buch „Die Kunst des Liebens“, in der verdienstvollen Gustav Kiepenheuer Bücherei als Band 96 erschienen. Später wuchs mein Erich-Fromm-Bestand auf solide 12 Bände an. „Trotz unserer tiefen Sehnsucht nach Liebe halten wir doch fast alles andere für wichtiger als diese“, schrieb er wohl mit Recht.

17. März 2020

Kinder, die man sonst selten bis nie sieht, allenfalls hört, bewegen sich jetzt auf der Straße. Mehr Roller und kleine Fahrräder auf einmal waren nie. Mehr Kreidemalerei auf Bürgersteig und Parkflächen nie und das alles schon am ersten Tag geschlossener Schulen und Kindergärten. Wer täglich ins Fitness-Studio ging, ist angeschissen, wer nach dreißig Jahren Witze über Dosenravioli endlich einmal kosten will: Fehlanzeige. Selbst in seriösen Nachrichtenredaktionen ist das Wissen entglitten, was der Unterschied zwischen einem linearen und einem exponentiellen Wachstum ist. Auf alle Fälle sind tausend neue Fälle pro Tag kein exponentielles Wachstum, was das Wachstum freilich nicht netter macht. Endlich wird auch das 50 Prozent teurere und gleichzeitig wenigere Sonnenblumenöl in der Glasflasche verkauft: das Öl in Plastik ist längst weg, die passierten Tomaten auch. Denn alle wollen mit ihren vielen Nudeln nun auch Nudelgerichte basteln, herrlich.

16. März 2020

Zum Glück wischt sich niemand mit frischen Eiern den verschissenen Hintern ab, weshalb es mir ohne Probleme gelang, aus dem kleinen Kühlschrank zwei Zehnerpackungen frischer Landeier zu entnehmen, nachdem ich sechs Euro in die Kasse des Vertrauens geworfen hatte. Dergleichen ist zu unserer Gewohnheit geworden, seit wir der Fußpflege frönen, die wir vorerst noch nicht unter die zu vermeidenden Sozialkontakte rechnen. Andernorts werden fast zeitgleich mit den Schulen und den Kindergärten die Spielplätze geschlossen, was in Märkten mit Spielzeug, mit dem Kinder über längere Zeiten zu fesseln sind, weihnachtsähnliche Umsätze hervorzaubert. Ist ein Massensterben richtig groß, gehen die größten Bestatter an die Börse. Der Postmann beglückte mich mit einem dicken Buch voll Schauspiele von Heinrich Mann, der alten Kantorowicz-Ausgabe zugehörend, die wegen ideologischen Abgangs des Herausgebers keinem Finale zugeführt wurde: sehr gut erhalten.

15. März 2020

Heute hätte ich über den „Hamlet“ aus Rudolstadt geschrieben, denn gestern wäre ich dort gewesen in der Hoffnung, nicht noch ein Desaster wie einst mit dem dortigen „Othello“ erleben zu müssen. So aber üben wir Meidbewegungen, keine sozialen Kontakte mehr, asoziale haben wir ohnehin nicht, unsere Nudeln reichen ohne Hamstern, unser Klopapier reicht auch, wir würden gern unseren Kindern und Enkeln in Berlin welches senden per Post, glauben aber verschwörungstheoretisch geschult, dass die Sendung unterwegs verloren gehen könnte, vielleicht erst auf der Durchreise durch Brandenburg, von wo wir heute Fotos erhielten von leeren Klopapierregalen. Da fügt es sich, dass vor 50 Jahren der armenische Franzose Arthur Adamov mit Hilfe etlicher Schlaftabletten sich das Leben nahm, die feindselige westdeutsche Öffentlichkeit hatte sich längst verabschiedet von ihm. Alles nur, weil Adamov Brecht für sich entdeckt hatte und dann auch noch Sean O’Casey.

14. März 2020

Was gibt es am Wochenende in Corona-Deutschland zu essen? Vermutlich Klopapier-Nudel-Auflauf, so jedenfalls wirken Supermarktregale. Formeln aus dem Klassenkampf-Alltag, wie „Wehret den Anfängen!“ gewinnen völlig neue Aspekte: „Wehret den Anfängen, bevor sie angefangen haben!“ Für Lehrer und Erzieher in glücklichen Bundesländern gibt es bezahlten Zusatzurlaub, für Eltern, die ihre Sprösslinge in Kindergärten und Schulen ablieferten, um dann in Ruhe das Vormittagsprogramm des Privatfernsehens genießen zu können, brechen schlechte Zeiten an: die Schreihälse sind zu Hause und das womöglich wochenlang. Und Oma darf nicht helfen kommen, denn Oma ist Risikogruppe Nummer 1, Opa noch schlimmer, der ist eigentlich schon so gut wie tot, wenn er aus dem Haus geht, um seinen getrennten Müll in die getrennten Tonnen zu werfen. Lesen hilft. Nur nicht die falsche Zeitung, die 40 Jahre Hass auf Deutschland feiert: Slime.

13. März 2020

Sein oder Nichtsein ist morgen nicht die Frage in Rudolstadt. Ich wollte heute noch anrufen und fragen, ob der Verdachtsfall eintritt, schaute aber nach der Absagenorgie des Tages einfach noch einmal auf die Website und siehe, bis 27. März ist Totalausfall angesagt. Ich kann mir meine „Hamlet“-Karte für morgen an den Spiegel nageln, das aufgewendete Geld nicht einmal spenden, weil es für Pressekarten keine Aufwendungen seitens des Pressevertreters gibt. Na gut, ich habe noch zwei weitere Pressekarten für Rudolstadt, endlich wollte ich mal wieder richtig hin in meine fünftliebste Schiller-Stadt und nun wird es nichts. Wo kein „Hamlet“, da kein „Macbeth“, das Wochenende darauf entfallen 550 Fahrkilometer zu Christian Friedels Inszenierung und zurück. Wir werden das Benzingeld sinnlos versaufen. An Frank Thieß werde ich heute nicht denken, da haben wir Bessere aus dem Jahrgang 1890, dafür an die Kämpferin Louise Otto-Peters, die 1895 starb.

12. März 2020

Wie hieß gleich der Kerl, der alle Kinder umbringen ließ, um die Verbreitung eines gewissen Jesus zu verhindern? Wir alle kennen das Ergebnis. Mit viel Mühe und sonstigen Aufwänden stellten wir unsere Theaterpläne auf, ordneten Reisen danach, familiäre Abordnungen zur Sicherung familiärer Konzertbesuche, nun kommen die Botschaften hageldicht: Absage da, Absage hie, vermutlich die Todesurteile für ganze Inszenierungen. Spielpläne sind ja abgestimmt, Ergebnis langer Planungen und Abwägungen, da kann man nicht einfach nächsten Dienstag spielen, weil vorigen Freitag einer hustete. Fünf Wochen am Stück nicht spielende Theater: bis dato unvorstellbar. Italien lahmgelegt, der Dax rast nach unten, weil nun auch noch dieser Vollpfosten im Weißen Haus sich meldet. Mein hochverehrter Kieferchirurg zog anstandslos meine hochverehrten Fäden links oben und unten, das merkwürdige Gefühl ist erst einmal weg, mal sehen, wann die Zahnärzte ihre Termine absagen.

11. März 2020

Dies ist der 70. Todestag von Heinrich Mann: Bücherstapel im Arbeitszimmer lassen mich kaum einen Pfad finden auf dem Weg in die anderen Räume der Wohnung. Ich habe den „Urfaust“ hinter mir und freien Kopf. Noch am Morgen lese ich in Herbert Iherings Buch aus dem Jahr 1951 zum Einstimmen in die Schreibphase. Wenn die begonnen hat, ist eine Fahrt in die Stadt, die vielen Zeitungen mit den Beilagen zur ausgefallenen Leipziger Buchmesse zu holen, nichts anderes als die Rauchpause der Raucher. Die Fußballspiele vor leeren Kulissen provozieren die Frage, ob auch Theaterabende vor leerem Parkett denkbar wären: in jeder vierten Reihe ein Kritiker, rechts und links nahe den Saaltüren ausgewählte Zuschauer mit Atemmasken? Nein, es geht nicht. Wer sollte quietschen, wenn es nichts zu quietschen gibt, wer an den falschen Stellen lachen? Ich mittendrin als Risikogruppe: alt und vorgeschädigt. Stirb, Corona, wir bauen dir danach barocke Säulen.

10. März 2020

Bisweilen ist das Wetter haargenau so, wie es angesagt wird: Sturm und Regen am Dienstag, ich fahre also anders als geplant allein nach Weimar, mir den „Urfaust“ zum zweiten Male anzusehen. Unterwegs wirbeln die Transporter so viel Wasser auf, dass man kaum etwas sieht, bisweilen sind fünf von ihnen auf der Überholspur, den Virus im Nacken. Die Frau an der Kasse erkennt mich und reicht mir meine Karte, die Jugend um mich verhält sich ruhig und jugendlich. Meine in der ersten Woche nach dem Tod meiner Mutter Fragment gebliebene Besprechung erweist sich als brauchbar, ich muss nicht sehr viel ergänzen und bin so halbwegs rasch am Ziel. Unsere Italienreise ist nun endgültig storniert, was die positive Seite hat, mir einen Premierenbesuch in Meiningen zu erlauben, den ich sonst hätte ausfallen lassen müssen, Ersatztermine sind immer eine eigene Sache. Den Reise-Ersatztermin für Ende Oktober akzeptieren wir erst einmal, kein Italien geht gar nicht.

9. März 2020

Wenn der Satz: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ den Satz „Ich sterbe auf alle Fälle vor der Hoffnung.“ beinhaltet, dann ist das zwar logisch sauber gefolgert, hat aber etwas wenig Befriedigendes. Auf solche Gedanken komme ich, weil ich heute an der Seite meiner verehrten Gattin einen neuen Pass und einen neuen Personalausweis, letzterer mit ungeahnten Fähigkeiten, abgeholt habe. Beide sind so lange gültig, dass ich die Vorstellung nicht ganz von der Bettkante schieben kann, es könnten meine beiden letzten Ausweise gewesen sein, deren Empfang ich morgens im Rathaus mit einigen Unterschriften quittierte. Im Zweiten Deutschen Fernsehen der erste Teil von „Unterleuten“ mit diesem Feinschmecker-Einstieg: „Lassen Sie sich nichts erzählen. Von niemandem.“ Das sagt die Erzählerin. Alle Kreter lügen, sagte der Kreter. Julie Zeh ist auf alle Fälle längst ein ganzer Fuß. Meine Tageslektüre hat mich neu auf Ludwig Marcuse gestoßen, übermorgen gibt es mehr dazu.

8. März 2020

Es gibt Menschen, die am 8. März an Clara Zetkin denken. Es gibt Menschen, die denken sogar eine Woche vorher schon an sie und dürfen dann einen Gastbeitrag in der WELT veröffentlichen. In dem sie die Frage stellen, ob der Tag gut gewählt ist, weil doch Zetkin eine Stalinistin war und sogar Chefanklägerin in einem Moskauer Schauprozess. Die Weisheit wie fast alle anderen seiner Weisheiten hat Autor Michael Kaste offenbar von WIKIPEDIA, wo sich auch das Jahr 1922 für den Prozess findet, allerdings nur das Wort Anklägerin, den Chef hat Kaste hinzuerfunden. Natürlich bleibt er die Erklärung schuldig, wie eine ausgebildete Volksschullehrerin Anklägerin werden konnte. „Moskauer Schauprozesse“ gab es erst, als Zetkin schon drei Jahre tot war. Astreine Recherchen sind nicht jedermanns Sache. Immerhin hat der MDR, nicht Kastes MDR AKTUELL, auch eine Sendung „Clara Zetkin – die Unbestechliche“ im Angebot. StalinistInnen-Balsam??


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