Tagebuch

24. Dezember 2019

Gut, dass es noch dauert, bis unsere klimafreundlichen Fleischersatzforscher aus Stammzellen nicht getöteter Tiere Pseudo-Rouladen und Pseudo-Bratwürste zu Preisen marktreif gemacht haben werden, die nicht nur von chinesischen Milliardären oder grünen Weltrettern auf Steuerzahlerkosten vertilgt werden können. Bis dahin setze ich mich am schneefreien Heiligabend (der Klimawandel) in mein E10-freies Benzinauto (Abholzung südamerikanischer Wälder für Öl auf unsere Mühlen respektive in unseren Tanks) und fahre zum Fleischer meines Vertrauens, bei dem wir zur rechten Zeit Würste und Rinderrouladen bestellt haben, erwerbe dazu noch eine weiche Knackwurst, nachdem ich die Frage, ob mit oder ohne Kümmel mit: ohne Kümmel, beantwortet habe. Das Kaninchen für den ersten Feiertag ist bereits in essbarem Zustand, Kloßkartoffeln aus Heichelheim lagen noch im Keller, auch ein Kartoffelsalat zieht bereits. Nur die Uroma wird erstmals fehlen.

23. Dezember 2019

Erstmals in meinem langen Schreibleben beende ich an einem Tag zwei Texte für www.eckhard-ullrich.de, was damit verbunden ist, auf dem Schrittzähler eine vierstellige Zahl zu sehen, die ich mich zu nennen schäme. Ein Anruf aus unserem Jahreswechsel-Domizil erreicht mich: Wein ist schon da, Bier ist schon da, alle sind schon da, nur wir fehlen noch. Das dauert dann noch ein paar Tage, weil morgen erst einmal Enkel-Einflug angesagt ist, wir werden sie natürlich verwöhnen, weil das Oma- und Opa-Job ist und ich denke, auch Opas waren einst verwöhnte Kinder bei ihren Opas, an den Werbe-Onkel Otto des Hessischen Fernsehens, den ich liebte mit sieben oder acht Jahren, den es zu Hause mangels Fernseher nicht gab und wohl auch nicht gegeben hätte. In Filmen aus dem fernen Amerika werden weite Teile des Dialoges mit den Worten „okay“ und „o my god“ bestritten, was es verständlich macht, dass diese Menschen wählen, wen sie wählen: Agent Orange.

22. Dezember 2019

Heute wäre Hugo Loetscher 90 Jahre alt geworden, wenn er sich etwas Mühe gegeben hätte wie etwa meine Mutter, die beinahe 91 Jahre alt geworden wäre, wenn nicht so viel Wasser in ihrer Lunge gewesen wäre. Nach so viel wäre denke ich an Frank, der seinen 66. Geburtstag vor einem Jahr noch erlebte, ohne ihn zu erleben, was man künstliches Koma nennt. Ein Jahr später ist es ein seltsamer Gedanke, dass wir heute feiern könnten, weil Sonntag ist, an Sonntagen war er auf keiner Baustelle im fernen Westen und wir können trotzdem nicht feiern, weil er tot ist. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, ist mir der Tod nahe wie nie, täglich habe ich mindestens einen Gedanken, was ich wohl nicht mehr tun oder erleben werde. Es ist schrecklich viel. Ein verblödeter Fußball-Reporter meint am Abend, er habe das letzte Bundesliga-Spiel des Jahrzehnts gesehen. Diese Trottel-Art feierte weiland auch das neue Jahrtausend ein Jahr zu früh, sie hatte beim Abitur Mathe abgewählt.

21. Dezember 2019

Mein persönlich mit den Farben Blau (für Todestage) und Orange (für Geburtstage) geführter Jubiläumskalender im Format A4, steife Pappe, weist für heute den 100. Geburtstag von Gerd Semmer aus, eine unter Datenkraken herausragende Informationsplattform verrät mir, dass er in Paderborn geboren und nicht einmal 50 Jahre alt wurde. In seinem Todesjahr beglückte er gemeinsam mit André Müller senior die Welt mit einer Sammlung von Brecht-Anekdoten, welche der Leipziger Reclam-Verlag schon zehn Jahre später auch den Lesern der DDR vor die Füße schleuderte. Man kann übrigens die Anekdoten noch heute mit Genuss lesen, was wenig mit Semmer und Müller, viel mit Brecht zu tun hat. Die gestrige Feier in der Steinstraße im Kreis der üblichen Verdächtigen konfrontierte mich mit einer Sorte schottischen Whiskys, die mich daran erinnerte, warum ich entweder keinen oder irischen Whiskey trinke. Ich ändere mich nicht mehr.

20. Dezember 29019

Beim Vernichten eines 25 Jahre alten Einzelheftes des „Eulenspiegel“ stoße ich auf Namen, die mir irgendwie bekannt vorkommen. Ich grüble kurz, aber erfolglos. War da was? Ach ja, eine DDR. Über die man Witzchen riss, solange sie da war. Die man aber, rückblickend, gar nicht so schlecht fand, weil sie eigenen Sonderstatus ermöglichte. Beim Sieger im Klassenkampf ging man unter, man war nicht einmal nur schlicht vergessen, es gab einen gar nicht, nie da gewesen. Manchmal, auf Buchmessen, traf man sich, klopfte sich auf die Schulterblätter: Du auch ohne Honorar einmal im Monat im Blatt? Du auch ohne Verlagsabrechnung? Man kann die Ilmenauer Stadtlinie jetzt für 1,40 Euro benutzen und ich will mir nicht einreden, dass die jüngsten zehn Cent Aufschlag mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Ilm-Kreis zu tun haben. Die Kommunalisierung des Nahverkehrs kostet Geld, das mangels melkbarer Imperialisten vom Fahrgast genommen wird.

19. Dezember 2019

Was waren das für seltsame Zeiten, als Unternehmen mit dem warben, was in ihren Produkten drin ist! Jetzt werben alle mit dem, was nicht drin ist. Die Abwesenheit von Aluminium im Deo-Roller beispielsweise hat mir gerötete Achsenhöhlen beschert. Als mir das bewusst wurde, begann ich ein zielgerichtetes Aluminium-Studium. Mein zielgerichtetes Zeitungsstudium führt mich zu der Frage, warum Frankreich ununterbrochen Vordenker fabriziert, wir nicht einmal echte Nachdenker. Seit Kriegsende beglücken uns die ehemaligen Erbfeinde in lückenloser Folge mit Sartres, Beauvoirs, Camus‘, Derridas, Foucaults, Lacans, Kristevas, wir reden nicht von Roland Barthes und Michel Serres, Glucksmann, von Piketty, von Bernard-Henri Levy, von Raymond Aron oder Eric Vuillard. Wie macht ihr das, Franzosen? Wir hätten womöglich kein Theater mehr ohne eure Strukturalisten, Poststrukturalisten, Dekonstruktivisten und Sonstige, Castorf wäre vielleicht Stehgeiger geworden.

18. Dezember 2019

Live aus meinem Schredder-Bericht: Alte Konto-Auszüge der Jahre 1991 bis 2000, diesmal meine eigenen, zeigen merkwürdige Dinge: Haben-Zinsen, monatlich ausgezahlt etwa. Ich sehe, wann ich meine ersten Versicherungen wieder kündigte und bereits gezahlte Beiträge zurückforderte. Ich las rechtzeitig die richtigen Artikel in den richtigen Zeitungen und verabschiedete mich von Kapital-Lebensversicherungen und Bausparverträgen. Über die Versicherungsvertreter, die mich belaberten, müsste meine geheime Autobiographie ein eigenes Kapitel enthalten, alle waren sie offenbar vom gleichen Schulungsinhalt beflügelt und zeigten ähnliche Grafiken zum Verarschen von Neukunden. Gestern erstmals der Blick auf zwei ICE fast zeitgleich auf der langen Brücke zwischen Gehren und Langewiesen, der neue Fahrplan schlägt zu. Ich hatte eine Zeit, da ich 14 Monatsgehälter bezog und Kollegen-Artikel sammelte, die heute ausnahmslos alle ins Altpapier wanderten: mit Sammelordner.

17. Dezember 2019

„Ulm. 17. Dezember 1944. Zwischen 19.23 und 19.50 Uhr wurde das alte Ulm dem Erdboden gleichgemacht. Gut 80 Prozent der Altstadt lagen in Schutt und Asche, mehr als 800 Kinder, Frauen und Männer fanden bei dieser schweren Bombardierung den Tod.“ So beginnt ein längerer Bildtext zu einem Foto aus dem Ulmer Münster, in dem ich im Sommer 1954 beinahe getauft worden wäre. Mein Vater hat meiner Mutter eigens ein Buch geschenkt, als sie mit mir zurück kam nach Gehren. Ich weiß nicht, ob er fürchtete, sie hätte dort bleiben können bei all ihren Verwandten, bei all meinen Verwandten, von denen niemand in den Osten geraten war außer meiner Mutter. Mit einer Ausnahme: die Tante in Bad Sulza, die aus Elbing gekommen war. Am 16. Dezember 1944 begann im Grenzgebiet zwischen Luxemburg und Belgien die so genannte Ardennen-Offensive. Zum 50. Hochzeitstag meiner Eltern war ich mit ihnen genau dort, wo jetzt Steinmeier sprach: in Bastogne.

16. Dezember 2019

Zwei Montage gibt es noch in diesem Jahr nach dem heutigen, dann ist wieder ein Jahr im Orkus verschwunden. Die Prophetengruppe Ü 70 hat unlängst wieder einen aus ihren ausgebufften Reihen losgeschickt mit der Botschaft: Wir haben noch 20 Jahre Zeit, den Planeten zu retten. Man könnte den Planeten, wenn er nicht so groß wäre, ja in einem Gummiboot übers Mittelmeer schicken, da würde ihn vielleicht eine junge Neu-Roman-Autorin mit ihrem Schiff retten und könnte danach gleich den nächsten Roman über sich verfassen. Der SPIEGEL würde ihn sicher schon besprechen, ehe er den Markt geflutet hat. Und 23 Theater wären bereit, eine Bühnenfassung in den Spielplan zu drücken. Sollte die Rettung bis 2039 nicht gelingen, bliebe die Frage, was mit dem nicht geretteten Planeten dann geschieht: Rest-Müll oder Recycling. Muss ihn der Urknall zurücknehmen wegen des Verursacherprinzips? So viele Fragen, nur eine einzige Antwort. Die hier nicht verraten wird.

15. Dezember 2019

Die Genossenschaft will im kommenden Jahr Wüstenbussarde über der Pörlitzer Höhe kreisen lassen, um der Tauben-Plage Herr zu werden (darf man das überhaupt noch sagen?). Jedenfalls ist ein Versuch mit einem norwegischen Drachen mehr oder minder gescheitert, die gurrenden Luft-Ratten sind ein paar Meter weiter auf dem Dach gezogen und haben die ortsfeste Attrappe mit Verachtung gestraft. Einmal sah ich einen Falken mit einer Taube in den Krallen, aber der Falke ist einfach zu klein für diese vollgefressenen Tauben, vielleicht schmecken sie auch nicht. Wie es dann mit den Wüstenbussarden geht, werde ich beobachten, wie ich einst das Balzverhalten der Pariser Tauben nahe dem Centre Georges Pompidou beobachtete: voller Schadenfreude, wie selten so ein Täuberich zu einem Nümmerchen kommt, weil die Erwählte einfach lieber frisst als Sex hat. Am dritten Advent heute der traditionelle Teil-Familientag mit allerlei Kaffee, Kuchen und Plätzchen.

14. Dezember 2019

Die jüngste Schwester meiner Mutter hat heute ihren 80. Geburtstag. Zum 80. einer etwas älteren Schwester waren wir noch in Ulm mit meiner Mutter: jetzt bleibt es beim Telefonat und einer kleinen Gabe. Der Ärger über die Doppelvergabe des Literatur-Nobelpreises will nicht enden: es ist der Ärger des Archivführers in mir: Handke gehört zu Österreich, Tokarczuk zu Polen, das sind getrennte und weit voneinander stehende Ordner. Nur die lieben Feuilleton-Könige machen Rührei aus beiden. Wo überhaupt noch Theaterkritiken gedruckt werden, sind Mehrfachbesprechungen an der Tagesordnung, nur Nachtkritik.de schickt seine Hymniker des Romans auf der Bühne, seine Projekt-Enthusiasten mit Klassik-Phobien nur eines Abends wegen aus, was in Summe stets ein falsches Bild des tatsächlichen deutschen Theaterlebens ergibt, das breitere Publikum erfährt allenfalls, was es nicht zwingend sehen muss. Man muss auf das Ende der Print-Medien warten.

13. Dezember 2019

Dass heute vor 250 Jahren Gellert starb, Christian Fürchtegott Gellert, der fabelhafte Fabelmann aus Leipzig, will ich nur beiläufig erwähnen, auf meiner wunderbaren Webseite www.eckhard-ullrich.de lässt sich der Suchbegriff Gellert eingeben und schon erscheint, was ich zu ihm ganz unbescheiden bis dato verlauten ließ. Derweil resümiere ich die Postwoche: Strompreiserhöhung ab Februar 2020, einmal Presseausweis mit Autoschild, vier Fontane-Bücher, darunter eine Dissertation aus dem Jahr 2015, in der die sonst so herzhaft vernachlässigten Kriegsbücher wegen beschriebener Schlachten-Gemälde als kunsthistorische Stofflieferanten dienen. Es geht also auch anders. Aus Kissingen in der elektrischen Post zwei Artikel-Kopien über eine 2001 veranstaltete Buchvorstellung. Der auf dem Foto zu sehende Oberbürgermeister Christian Zoll lebt nicht mehr, er wurde nach Rekord-Dienstzeiten von sagenhaften 42 Jahren zum Ehrenbürger ernannt und starb 2017 mit 75 Jahren.


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