Tagebuch

15. August 2020

Mein Anzeigenblatt verrät mir heute, dass es inzwischen Thüringer Bratwürste für Veganer gibt und für Vegetarier auch. Das freut mich für diese Menschen. Ich hoffe, es werden demnächst auch grunzende Eisbergsalate und Methan furzende Möhren in die Regale unserer Supermärkte gelangen. Die Post erfreute uns heute mit einer Botschaft aus dem Finanzamt: von wegen Home-Office, die haben doch tatsächlich gearbeitet. Aus dem Großraum Berlin erreichen uns fröhliche Sonnen-Fotos, während wir gestern erstmals zu Balkonflüchtern wurden und heute aus gleichen Grundursachen unsere Handtücher nicht auf die Leine hängten. Boden und Landschaft sowie ihre natürlichen Lobbyisten in der Bevölkerung freuen sich: in kurzer Zeit alle Fässer voll. Das Volk der Laufenten verspeist ganze Würmerfamilien, die ihre überfluteten unterirdischen Gänge auf der Flucht in den Tod verlassen. Was mit den Nacktschnecken passiert auf den Radwegen, verschweige ich dezent.

14. August 2020

Langes Baby-Schreien begleitete unseren gestrigen Balkon-Abend bei leichtem Höllmüller-Riesling mit zwei Kerzen, dabei eine katholische aus dem Jahr 2010, pastorales Geschenk für mich nach dem Unfall auf der Autobahn. Die ausdauernde Windstille lässt die Flämmchen gerade stehen, kerzengerade fast. Brecht-Todestag und Strittmatter-Geburtstag erinnern an intensivere Zeiten des Umgangs, derzeit sind andere Felder weit und verlockend. Heute kommt mein Wunschtischler, die Maße abnehmen für ein Hängeregal, welches nach den Worten der Frau an meiner Seite nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein sein wird, was ich nicht bestreiten kann. Es sind schon vage Überlegungen zwischen uns, nach einem Archivraum zu suchen, der mein Arbeitszimmer entlastet. Da der aber wenig bis nichts kosten sollte, ist das kaum mehr als ein frommer Wunsch. Es gibt Weingüter, die versenden Steckbriefe ihrer Weine, um die Wartezeit bis zur Lieferung abzukürzen.

13. August 2020

Es hat uns tatsächlich ein Gewitter ereilt in Sohnstedt, wo wir gestern den ersten Saunatag des Jahres 2020 verbrachten, endlich die Gutscheine einlösend vom weihnachtlichen Gabentisch. Als wir nach Hause kamen, zwei Anrufe in Abwesenheit: der Schwager wegen des Familienfestes im kleinen Kreise, der Enkel von Arthur Eloesser mit der guten Nachricht der neuen Website. Noch zu später Stunde las ich kursiv, heute dann intensiv und ausführlich. Heute auch der Mann aus Erfurt, der unseren runden Tisch per ebay gekauft hatte und ihn nun abholte. Es wird ein wenig mehr Platz im kleinen Gästezimmer. Das ND bringt heute eine Kritik zu Marlen Haushofers Märchen-Trilogie „Der gute Bruder Ulrich“. Ich bin nach „Das Waldmärchen“ hängen geblieben, das Lesebändchen mahnt mich, das schmale Büchlein zu Ende zu bringen. Aber ich pendle noch zwischen Schnurre und Martin Stephan und abends ist ganz ungeplant ein kleiner Eloesser im Netz zur neuen Website.

12. August 2020

Dies ist nicht nur der Todestag von Thomas Mann (der 65.), sondern auch der von Lu Märten (der 50.). Die Fundus-Reihe des Dresdener Verlags der Kunst unternahm es vor mittlerweile fast 40 Jahren, sie der weitgehenden Vergessenheit zu entreißen, „Formen für den Alltag“ hieß das Buch, nicht leicht zu lesen, außerdem seltsame Kämpfe dokumentierend, die da Frauen untereinander austrugen (Gertrud Alexander gebärdete sich besonders heftig). Bei WIKIPEDIA findet sich die Falschbehauptung, ihre Bücher wären am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz unter den verbrannten gewesen. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass eines ihrer Bücher irgendwo in Deutschland den Flammen zum Opfer fiel. Nach 1945 arbeitete sie, in West-Berlin wohnend, für Ost-Berliner Verlage, seltsam genug. Nur für das Protokoll: Man kann auf Balkonen bei Wein und Kerzen auch gewichtige Entscheidungen treffen. Wir machen sie angelegentlich auch öffentlich.

11. August 2020

Nun hat mich der Walter Basan gestern so lange festgehalten, dass ich darüber den Martin Stephan ganz vergaß. Dabei war die Abschrift meiner alten Kritik von 1989 erfolgt, Korrektur gelesen, es fehlte nur der letzte Akt: die paar Zeilen meinen ALTEN SACHEN zuzufügen im Netz. Nun ist es zwar nachgeholt, aber immer noch falsch. Denn Martin Stephans 75. Geburtstag war gestern, wenn er denn noch lebt, so steht er auch in meinem Kalender. Mit der Erinnerung eines Schulfreundes aus alten Goetheschul-Zeiten, der mich einst fragte, ob ich Martin Stephan kenne, er hatte ihn irgendwo kennengelernt. Ich musste verneinen, sagte aber wohl, ich würde ihn gern kennenlernen. Seit 2002, soweit ich sehe, ist er aus dem öffentlichen Raum verschwunden, krank, tot, ich weiß es nicht. Da alle Vorarbeit dazu getan ist, werde ich noch ein paar Zeilen über sein erstes Buch „Schiffe gehen gelegentlich unter“ folgen lassen, das nach mehr als 40 Jahren immer noch Lesevergnügen bereitet.

10. August 2020

Wenn es Iris Berben nicht gäbe, müsste sie umgehend erfunden werden. Ihr 70. Geburtstag zeitigt eine Interview-Welle mit ihr, die einen an Messe-Rundgänge von Erich Honecker in Leipzig denken lässt. Der gab zwar nur selten Interviews, aber er war auf Fotos etwas wie ein Supermodel der DDR. Nun also wissen wir, dass die 70 doch nicht so schlimm ist. Udo Jürgens war gestern mit seinen 66 Jahren, die den Lebensbeginn markierten. Als Strafe für seine leichtsinnige Behauptung musste er sich seinen letzten weißen Bademantel ausziehen lassen, weil er wegen Todes das nicht mehr selbst erledigen konnte. Ein DDR-Autor namens Walter Basan wäre heute 100 Jahre alt geworden, was ihm nicht ganz gelang. Er starb bereits im Februar 1999. Es gibt Gegenden, in denen er nicht nur nicht vergessen ist, man nennt dort sogar eine Straße neu nach ihm. Als Kind las ich sein Buch „Götter, Mais und Isotope“, es passte zur Kampagne „Wurst am Stengel“ (nicht Stängel).

9. August 2020

Die Aufmerksamkeitsökonomie des sterblichen Menschen ist brutal und katastrophal: drei Tage machen den Unterschied, dass es „Hiroshima – mon amour“ und „Hiroshima“ gesungen gibt, noch die Sprengkraft neuer Bomben wird an der von Hiroshima gemessen, nicht an Nagasaki. So sind wir, es gibt nichts zu beschönigen. Deshalb auch rasch zur Tagesordnung: Nach Leberwurst und Schinken vom Strauß gestern - heute Straußenbratwurst, alles Premieren. Nur gebratenen Strauß kannten wir schon aus den entrückten Zeiten, als es in der Ilmenauer Marktstraße noch einen „Schwan“ gab, der freilich seinen Namengeber nie braten ließ. Wir tranken Dornfelder dazu, das habe ich vermutlich schon siebenmal erzählt oder aufgeschrieben, das ist das Privileg des Alterns. Die Straußensalami, die wir eigentlich erbeuten wollten gestern, gab es nicht, sie war ausverkauft, dafür war noch eine Flasche Eierlikör von Straußenei da, da rede noch einer diese Welt schlecht.

8. August 2020

Dreißig Jahre deutsche Einheit sind noch nicht ganz voll und es gibt immer noch erste Male. Am gestrigen Morgen meldete sich der Paketdienst UPS, um uns ein technisches Gerät zu liefern, welches wir gewöhnt sind, den „Insekten-Schröter“ zu nennen, seit wir es in Berlin kennen und schätzen lernten. Seine Nutzung schließt ein, dass man bestimmte Interviews nicht mehr geben kann, die die Standard-Frage „Töten Sie gelegentlich Insekten?“ enthalten. Dann schon lieber auf die Frage verzichten: „Kaufen Sie bei Amazon?“ Menschen, die beides nicht tun, sind die besseren Menschen, haben die Menschen beschlossen, die sich selbst stets für die besten Menschen halten. Heute dann ein sehr vertrauter Dienst, eine sehr vertraute Stimme, die gleich rät, die Kellerschlüssel mitzubringen. Es gibt Wein aus Joching. Er muss zu uns kommen, weil wir in diesem Jahr nicht zu ihm kommen. Ich habe fast die gesamte Palette der 2019er bestellt, sogar einen Müller-Thurgau.

7. August 2020

Wie kommt eigentlich Zigarettenasche auf mein Arbeitszimmer-Fensterbrett? Von oben, sagt das Gesetz der Schwerkraft, denn auch Asche ist, wenngleich in bescheidenem Maße, schwer genug, nicht nach oben zu fallen. Vogelkacke verhält sich da entschieden zielstrebiger und zeigt auch die klar bessere Standorttreue. Der Asche verhelfe ich durch zartes Pusten zu neuen Höhenflügen, die in diesem Fall einen Abwärtstrend verkörpern. Den Fallzahlen mit unserem Lieblingsvirus geht es eben gerade anders herum. Mach mich krank, mach mich krank, ich bin schon viel zu lange gesund, rufen unsere Freunde in Nordrhein-Westfalen, und werfen sich dem kleinen Feind an die schmale Brust. Wir sind wieder wer, sagen die Zahlen seit Mai erstmals wieder zwei Tage in Folge, und selbst in Luxemburg stirbt fast jeden Tag einer, was Berechnungen möglich macht, wann der letzte Luxemburger die Welt irdischer Drangsal verlässt, um das weitere Treiben von oben zu betrachten.

6. August 2020

Mein Leserbrief an den FREITAG ist zwar nicht gedruckt worden, dafür aber eine Berichtigung mit diesem schönen Bekenntnis: „Der Fehler passierte mehrere redaktionelle Instanzen und wiederholte sich auf der Bildebene. Wir können es uns nicht erklären und sind beschämt. Wir möchten uns bei den beiden Schriftstellerinnen sowie bei unseren Lesern und Leserinnen entschuldigen.“ Der ganze Rest an Betroffenen, die sich dieser schlichten Zuordnung entziehen, muss sehen, wie er damit umgeht. Man muss übrigens, um die Grausigkeiten des Krieges vor Augen zu bekommen, nicht unbedingt eine Uhr sehen, die in Hiroshima stehen blieb, als die Bombe explodierte, mir reicht eine Geschichte wie „Die Reise zur Babuschka“ von Schnurre, wo ein Deutscher, der einen russischen Hiwi mit Bauchschuss aus dem Feuer rettete, dabei selbst einen Lungenschuss bekam, gemeinsam sterben sie im Wagen, der sie zum Lazarett bringen soll, sie reden von der Babuschka, immer leiser. 

5. August 2020

Unser neu gestalteter Mülltonnen-Standplatz ist seit heute überdacht, es glänzt, weil es Glas ist und es hilft wohl verhindern, dass der Inhalt der Tonnen bei Regen nass wird (und damit schwerer). Das Schloss fehlt noch, das eigentlich schon längst eingebaut sein sollte, denn die Firma ist pleite und die Ersatzfirma auch schon wieder. So fliegen aus Thüringen Instrumente zum Mars, aber ein einfaches Schloss zu bekommen, kann Monate dauern. Der Auftrag, heißt es in eingeweihten Kreisen, wurde vor einem halben Jahr ausgelöst. Ich bin den ganzen Tag mit Walther Victor und Friedrich Engels beschäftigt gewesen, war zur Fußpflege, zu Fuß zum Essen in Unterpörlitz, was mir am Ende 2370 geschriebene Worte und 10.276 gegangene Schritte ins Stammbuch brachte. Wir sind mit der Organisation des 65. Geburtstages einer mir nahe stehenden Persönlichkeit weiblichen Geschlechts wichtige Schritte vorangekommen, Festort und Teilnehmer haben zugesagt, alles gut.

4. August 2020

Komisch, das: ich lese „Im Trocadero“ von Wolfdietrich Schnurre. Da steht auf der zweiten Seite: „Wir liefen ein Stück zusammen und redeten von den Wäldern bei Deutsch Krone und dem Dorf Stibbe, Kreis Schneidemühl, wo Wittigkeit her war.“ Vor einem Jahr hätte ich angerufen in Gehren, hätte meine Mutter gefragt. In ihrer Wohnung wohnt wieder jemand, aber anrufen geht nicht mehr seit dem 27. September. Immerhin: die Bücher sind nicht nach Sachsen-Anhalt gefahren, die von der alten Heimat. Ich könnte nach Stibbe suchen. Ob und wie Hermann Kesser und Erich Weinert einander wahrgenommen haben in ihrer Lebenszeit, weiß ich nicht: beider Geburtstag ist heute, Weinert ist der zehn Jahre jüngere gewesen. Wegen des Spanienkrieges interessiert er mich mehr. Dennoch müssen die entsprechenden Bücher warten. Weil dieser August eine Arbeitswoche kürzer ist, wenn nicht noch die dritte Reise des Jahres entfallen muss, noch freuen wir uns heftig auf sie.


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