Tagebuch

17. Februar 2020

Vor vielen, vielen Jahren war ich journalistischer Zeuge, wie der SPD-Pfarrer Andreas Enkelmann die CDU-Pastorin Christine Lieberknecht nach allen Regeln der Kunst und sichtbar genießerisch vorführte. Schauplatz, wenn ich mich nicht sehr täusche, war die Mensa III der TU Ilmenau auf dem Ehrenberg. Lieberknecht wurde später Ministerpräsidentin, Enkelmann wurde später nichts, was er selbst sicher anders sieht. Jetzt soll Lieberknecht wieder Ministerpräsidentin werden, wenn es nach dem gescheiterten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow geht, sie darf dann auch drei oder vier Minister ernennen, heißt es in den Abendnachrichten. Die und alle anderen Nachrichten tun, was Politik laut Journalismus nicht tun soll, Personaldebatten am Kochen halten. Es ist eine helle Freude, wer vor die Kameras gezerrt wird, um dieser oder jener journalistischen Wahrheit Drive zu verleihen. Auch wenn es nur scheint, als wäre Friedrich Merz kein Freund der guten alten Medien.

16. Februar 2020

Zurück aus Hof. Wo ich seit einer meiner Bierreisen vor mehr als zwanzig Jahren nicht mehr war. Zurück von einem „Othello“, dessen demonstrative Modernität mir nicht die Plomben aus den Zähnen trieb. Im Gegenteil: ich bin fest entschlossen, nicht zum letzten Mal das dortige Theater von innen gesehen zu haben. Vielleicht noch in dieser Spielzeit, es ist eine Sache der Terminplanung. Die Suche nach einer gastronomischen Einrichtung, in der man vor 17 Uhr etwas essen kann, was man mit fränkischer Küche verbindet, blieb erfolglos, wir landeten bei „Nordsee“, wo wir in Berlin immer landen in den Arkaden, wenn uns gar nichts mehr einfällt. Gutes Frühstück im Hotel heute, inklusive, das gibt es nur noch selten. Der Schrittzähler hielt bei 16.076, das ist Platz 6 seit vorigem Februar. Im Briefkasten das Protokoll des V. Deutschen Schriftstellerkongresses von 1961 kurz vor dem Mauerbau, lange hatte ich suchen müssen nach einem guten Einzelexemplar, jetzt habe ich es.

15. Februar 2020

Mit einem nagelneuen Navigationsgerät treten wir heute eine Kurzreise in weitgehend unbekanntes Territorium an, wir haben ein paar Kilometer der heutigen Strecke schon gestern probeweise unter die Räder genommen, man muss die Stimme kennenlernen, die etwas sagt, sehen, welche Signale akustischer Art man ausschalten muss, um nicht genervt zu werden, wenn man an einem Ortsschild bei 52 kmh abbremst und nicht schon bei 50 kmh ist. Wir erleben ein Theater, in dem wir noch nie waren und sehen ein Stück, dass wir schon öfter sahen. So ist das im Leben. Wegen Klimawandels oder warum auch immer sehen sich heute insgesamt vier Elstern bemüht, den Rohbau eines Nestes aus dem Vorjahr mit vereinten Schnäbeln eventuell in den Status der Bewohnbarkeit zu versetzen. Im Vorjahr war eine neidische Krähe der Grund zum schwarzweißen Rückzug. Die Krähe wollte das Nest gar nicht, es gefiel ihr aber, die Sangesbrüder mit Langschwanz einfach nur zu vertreiben.

14. Februar 2020

Es gibt Theaterkritiker, die schreiben, als wären sie angestellte Haushymniker und müssten ihren Vertrag durch Lobesorgien vorzeitig selbst verlängern. Selbst unmittelbar mit ihrem Lieblingsautor befreundete Rezensenten bemängeln der Form halber bisweilen das eine oder andere fehlende Semikolon in den ansonsten wunderbaren Satzkaskaden des jeweiligen Wortschwallmeisters. Nur damit niemand denkt, den muss er/sie ja loben, weil sie und so weiter. Aber wenn selbst mächtige Präsidenten, die von früh bis spät vollkommenen Mumpitz, Blödsinn und Vergleichbares von sich geben, sich selbst ungestraft für die Größten seit der Einführung des Wegezolls für Wegelagerer halten dürfen, warum sollte hinter den Bergen, bei den sechs bis dreizehn Zwergen, ein Virtuose der Pressekarten-Abarbeitung sich selbst kritisch sehen sollen? Dass dauerhaftes Lob verheerende Folgen haben kann, hat die Geschichte oft genug gezeigt: verlorene Bodenhaftung ist Mindeststrafe.

13. Februar 2020

Alfred Kosing lebt. Der vermutlich älteste noch röhrende Philosophie-Hirsch der DDR, geboren am 15. Dezember 1928, also zwei Monate jünger als meine Mutter, die nicht mehr lebt, lebt nicht nur noch, sondern schreibt auch immer noch Bücher. Und zwar dicke. Das ehemalige Zentralorgan der Partei, deren Mitglied er 1946 wurde, belobigt heute fünfspaltig einen 687 Seiten starken Wälzer mit dem Titel „Haben Nation und Nationalstaat eine Zukunft? Ein Beitrag zur Erneuerung der marxistischen Nationstheorie“. Sein Buch „Nation in Geschichte und Gegenwart“ war nicht halb so dick und erschien 1976. Als Student der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin hatte ich mich hinein zu vertiefen. Und fand kaum wieder heraus. Im einschlägigen Seminar präsentierte man uns eine Entwicklungsreihe, die bei Gens und Stamm begann, über die Völkerschaft zur Nation führte und dann kam: Das Sowjetvolk (das nach Gorbatschow wieder zu Stämmen zurück mutierte).

12. Februar 2020

Manchmal muss ich zu Nebenwirkungen keinen Apotheker befragen. Meine Lachmuskeln werden automatisch trainiert, wenn ich Kevin Kühnert im Fernsehen über Führungsstärke der CDU reden höre. Man ist da Experte in der SPD. Man sieht dem neuen Spitzen-Duo die Stärke geradezu an. Rudolf Scharping gewinnt nachträglich fast das Image eines Springinsfeld mit Sprühenergie. Die Nebenwirkung Herbert Nachbars, dessen ich heute gedenke, weil es sonst vermutlich niemand tut: ich habe sein Märchenbuch „Die Meisterjungfer“ zur Hand genommen, norwegische Märchen, in denen es zugeht wie in anderen Märchen auch, die dummen dritten Brüder kriegen die Prinzessin und das halbe Königreich. Der Witz dabei, die dummen dritten Brüder sind gar nicht dumm. In der wirklichen Welt werden mittlerweise die dümmsten Brüder Präsident oder Brexit-Anführer, was leider weltwirtschafts- und weltfriedensgefährend ist. Auch ohne halbe Königreiche im Verteiler.

11. Februar 2020

In Marburg ist er geboren: am 11. Februar 1900. Und in Heidelberg ist er gestorben: 13. März 2002. Das besagt: er hat seinen 102. Geburtstag noch erlebt. Heidelberg und Marburg sind Namen von Orten, die dem Diplom-Philosophen in mir natürlich vertraut sind, sein Name kam später zu mir: Hans-Georg Gadamer. Ohne den Stuttgarter Reclam-Verlag mit seinen kanariengelben Bändchen wäre er kaum präsent in meiner Bibliothek. So aber steht er da mit „Die Aktualität des Schönen“, „Der Anfang der Philosophie“, „Der Anfang des Wissens“ und „Wege zu Plato“, daneben, leuchtend rot „Einführung zu Gadamer“ von Jean Grondin. Eines Nachts sah ich Gadamer in einem Fernseh-Interview, da war er 99 oder gar schon 100 und er sprach, als trüge er Gedrucktes vor. Dergleichen bewegt mich mehr als vieles. Wenig bewegt mich, was gestern die Nachricht des Tages spielen musste: Kramp-Karrenbauer schmeißt hin. Hoffentlich folgt keine Schlaftabletten-Doppelspitze.

10. Februar 2020

Was rät man Frauen, deren Mann in aller Trantütigkeit beim Rückwärtseinparken den Familien-Smart gegen einen Mast gefahren hat und die nun mit dem Beil in der Hand hinter der Haustür lauern? Richtig – eine Nacht drüber schlafen! Was rät man Politikern in vergleichbarer Situation? Keine Sekunde zögern, den Alten sofort töten! Sonst könnten am Folgetag die Journalistinnen kommen, die Weltruhm für ihre Killerinstinkte genießen, und fragen, warum man 24 Stunden gebraucht habe für den einfachen Beilmord. Es ist schwer im Leben das Richtige zu tun, wenn man zur Wahl nur Varianten des Falschen hat und dabei von medialen Spannern beobachtet wird. Erinnern wir alternativ daran, dass Max Osborn heute 150 Jahre alt würde, was die Frage aufwirft: Wer war Max Osborn? Morgen gehe ich herum und frage, warum es 24 Stunden gedauert hat, bis mein neuseeländischer Fanclub bei Google nachgeschaut hat. Ich wiederhole die Frage: Warum?

9. Februar 2020

Hennig-Wellsow, die Blumenwerferin, fordert CDU und FDP, die Steigbügelhalter des Faschismus, auf, nun für Bodo Ramelow zu stimmen. Prima Idee: Schalke soll zwei Eigentore schießen, um Dortmund vorn zu lassen. Na gut. „Othello“ ging in die Unterhose, man kann es schon nachlesen, ich war bereits um elf Uhr beim Korrigieren. Mir tun immer die Schauspieler/innen leid, die sich da Gewalt antun müssen (das darf ich behaupten, weil ich einige von ihnen schon sehr viel besser sah). Kurios ist die Annahme, nur Steigbügelhalter-Mandate seien bei Neuwahlen in Gefahr, erst einmal hat die ganze Bande zu zittern, nicht vorhandene Wahlkampfkassen müssen aus dem Hut gezaubert werden und so weiter. Auch die Annahme, Neuwahlen würden zu klaren Verhältnisse führen, ist eine rein fiktive. In den Spätnachrichten gestern war die Rede vom journalistischen Sauerstoff, der fehlte vor lauter Thüringen, es gäbe auch noch den Rest der Welt. Das hätte ich nun nicht gedacht.

8. Februar 2020

Mehr als gestern habe ich vermutlich seit meiner überraschenden Verabschiedung aus dem Hause „Freies Wort“ 1973 nicht an einem Tag geschrieben, damals waren es Schreibmaschinenseiten eines Pseudo-Romanbeginns mit mir als Helden in der Rolle des Opfers von Stasi-Chargen. Die ich noch nicht als solche entlarvt hatte, das dauerte noch gut zwanzig Jahre. Gestern waren es Richard Dehmel und Eva Strittmatter in dieser Reihenfolge, den Dehmel hatte ich schon geopfert in der sicheren Annahme, ihn auf keinen Fall zu schaffen. Dann war er fertig und die Eva Strittmatter schrieb sich wie von selbst. Meine Bio-Festplatte im Kopf mit Volltextsuche belohnt mich für langes intensives Speichern. So kann ich entspannt nach Coburg fahren, „Othello“ sehen. Das Wetter ist noch bestens, für morgen gibt es so viel Orkanwarnung, dass man Angst bekommen müsste. Da wir aber allabendlich Weltuntergang in der Tagesschau haben, bleiben wir gelassen.

7. Februar 2020

Als es um Flüchtlinge ging, waren Stimmen chorisch im Umlauf, die glaubten, man dürfe keine Katastrophen-Metaphern aus der Natur entnehmen, um Menschen zu charakterisieren. Das gilt nur begrenzt, glaubt man den im Wesentlichen gleichen Köpfen, die ihren eigenen Inhalt teilweise arg irrtümlich für Hirn halten, wenn es um Thüringen geht: Dammbruch und Beben sind jetzt angesagt. CDU und FDP seien Steigbügelhalter des Faschismus, las man. Brandmauer heißt das Wort des Tages. Gut möglich, dass ich angesichts kommender Neuwahlen meine Tätigkeit als Wähler einstelle. Grauenhafte Vorstellung, dass sich eine abermals die absolute Mehrheit verfehlende Triple-Entente in Thüringen die Stimmen von Steigbügelhaltern holen müsste oder sich tolerieren ließe. Die AfD könnte natürlich dann auch Ramelow wählen, was ihn endgültig in die Bundespolitik treiben würde. Denn er müsste ja zurücktreten und nach Neuwahlen rufen nach den Neuwahlen.

6. Februar 2020

Und nun, Demokratie? Früher warst Du etwas, bei dem der vor den Wahlen immer gern Souverän genannte Volltrottel der Zeit nach den Wahlen (wenn er wieder nicht die jeweils Richtigen gewählt hatte) ein Votum abgab. Die mit seinem Votum Gewählten durften hinwiederum, was man gern repräsentative Demokratie nannte, dann ihrerseits auch wählen. Jetzt ist es so, dass Gewählte eigentlich nicht mehr wählen dürfen, weil: was immer sie unterstützen, den anderen auf die Füße fällt. Würde ich mein Enkelkind in eine Krippe geben wollen, die mit den Stimmen der AfD saniert wurde? Nein, ich würde mein Kind natürlich, ja was eigentlich? Wer nach Neuwahlen plärrt, läutet eine neue Phase in der Entwicklung der Demokratie ein: Wir wählen durch bis morgen früh und singen bummsfallerah. Es bliebe nur zu definieren, wie groß die Gruppe sein darf, der ein Ergebnis von Wahlen gefallen muss, wenn nicht der Ruf nach Neuwahlen immer, immer lauter werden soll.


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