Tagebuch
31. Dezember 2019
Gestern verschwiegen, heute verraten: wir waren auch noch in Wunsiedel vor dem Jean-Paul-Geburtshaus und am Schauplatz der Luisenfestspiele, wo wir mit etwas Glück kommenden Sommer einmal die berühmte Freilichtbühne besuchen wollen. Den Spielplan schenkte und eine Wirtin in einer kleinen Kneipe voller Männer, die alle aussahen, als wären sie Neorealismus-Komparsen aus italienischen Nachkriegsfilmen. Man klopft dort noch auf den Tisch, wenn man herein kommt. Heute erst auf den Waldstein mit Schüssel-Felsen und Ruinen, dann bis zur Saale-Quelle. Das ist vor allem auf dem Rückweg ein anspruchsvoller Kurs für Schrittzähler und Kalorienverbrenner. Der gebürtige Hallenser unter uns erfüllt sich einen Kindheitstraum und beglückt ganze WhatsApp-Gruppen mit dem Bild von sich an der Quelle. Wir hielten es bisher eher mit der fränkischen Saale, obwohl das natürlich eine klassische Fremd-Saale ist, die einfach in die falsche Richtung fließt.
30. Dezember 2019
Der vorletzte Tag des Jahres ist nun endlich der 200. Fontane-Geburtstag, zugleich auch der 75. Romain-Rolland-Todestag. Zum ersten schrieb ich, zum zweiten nicht. Den verehrten Gattinnen ist heute ein Ausflug nach Bischofsgrün gegönnt, wo es übereinstimmenden Aussagen unabhängiger Zeuginnen und sie begleitender Männer zufolge das beste Oberbekleidungsgeschäft westlich des Urals und nördlich des Äquators gibt, in dem das Angebot unfassbar und die Bedienfreundlichkeit auf einer Skala von 1 bis 10 den Wert 14 übertrifft. Die Damen schaffen drei Stunden in dem einem Geschäft, während die Herren in der Ferienwohnung der Lektüre obliegen. In meinem Fall handelt es sich wie immer um ein altes Buch, diesmal um „1907 – 1964. Zeitbilder“ von Annette Kolb, der ich im vorigen Jahr einen Tag zu früh in diesem Tagebuch zum 148. Geburtstag gratulierte, ich fiel auf die falsche Angabe ihres Verlages herein. Wir speisen abermals in Zell, diesmal am Markt 16.
29. Dezember 2019
Unser Quartier ist diesmal am Ledererring, drei Treppen, eine sehr schöne Wohnung, und für uns vier vollkommen ausreichend. Wir sind gestern noch mit einer Seeumrundung auf eine sehr solide Schrittzahl gekommen, speisten im „Waldsteinhaus“ in Zell im Fichtelgebirge, wo es auch einen Fichtelsee gibt, dennoch kein Zell am See, weil der, wie wir aus unserem nicht abgewählten Kurs „Seen in Bergen“ wissen, in Tirol liegt. Heute vertrauen wir uns der Therme Siebenquell an, auch wenn der überfüllte Parkplatz eigentlich abschreckend wirkt. Es gelingt uns nicht, auch nur einen einzigen der Aufgüsse zu erwischen, weil immer schon 200 Leute auf 100 Plätzen sitzen, wenn noch zehn Minuten und mehr Zeit bleibt. Das mindert das Vergnügen nicht. Denn gute Liegeplätze im Heustodl lassen sich belegen. Wir essen in der Therme, ich halte mich an die Tagessuppe, die eine schlichte Linsensuppe ist, für die bekanntlich früher ganze Erstgeburtsrechte verkauft wurden.
28. Dezember 2019
Bis spät in die Nacht habe ich doch noch einen längeren Fontane zu Ende gebracht für den Jubeltag am 30. Dezember. Ich vertiefte mich in das Jahr 1869, was eine andere Art von Suchen und Finden bedingt. Das Jahr endete mit Fontanes 50. Geburtstag und wenig freudiger Stimmung; seine Mutter starb am 13. Dezember. Für uns geht es heute auf die diesjährige Silvesterreise. Nicht annähernd so weit wie vor 15 Jahren, da wir in Koksijde das Paul-Delvaux-Museum sehen wollten und vor geschlossenen Türen standen, was uns zur Abtei Ter Duinen führte und als ein Glückstreffer im Tagebuch vermerkt ist. Wir wiederholen die Vorjahresreise, nur diesmal etwas länger. Mit dem Älterwerden ist wachsende Freude am Wiedersehen verbunden. Wir werden also wieder den See umrunden, wieder Eugen-Gomringer-Gedichte auf Granit lesen, die Therme genießen und dann möglichst viel an mitgebrachtem Wein vertilgen. Was weg ist, muss nicht wieder mit nach Hause.
27. Dezember 2019
Das Enkel-Argument für Fernsehen vor dem Frühstück: nach dem Frühstück fahren wir ja gleich nach Hause. Das stimmt zwar im Prinzip, aber das Wort gleich ist deutbar. Fernsehen vor dem Frühstück heißt automatisch: kein Fernsehen nach dem Frühstück. Ich verliere noch rasch eine Partie Schach, lege meinen König zum Zeichen der Aufgabe um, was den kleinen Sieger erfreut. Der noch kleinere Sieger spielt sein Spiel nicht zu Ende, weil man weniger Ausdauer hat, wenn man noch nicht fünf Jahre alt ist. Vor 15 Jahren, am 27. Dezember 2004, traten wir unsere Silvesterreise nach De Haan an der belgischen Küste an. Unser Haus Nummer 481 machte einen einigermaßen abgewohnten Eindruck, wir nutzten erfolgreich erstmals das Express-Check-In-Angebot, sparten damit allerhand Zeit. Unser Auto ließen wir in Niederkassel zurück. Heute schon Abschiedswinken in der Keplerstraße. Zwischenbilanz: das Schlafexperiment hat funktioniert, wir essen die Reste.
26. Dezember 2019
Fast zehn Jahre nach meinem wunderbaren Unfall auf der A 9, der mir eine solide titangestützte Wirbelsäule eintrug, begebe ich mich für zwei Stunden auf eine Bowlingbahn. Hinterher tut mir der linke Arm am meisten weh, den ich gar nicht benutze. Der Rest geht. In der zweiten Stunde bin ich besser als in der ersten, weil ich dann endlich eine wirklich zu mir passende Kugel gefunden habe. Zuvor eine kleine Wanderung von der Rodelbahn zur Goetheschule. Die Enkel erfahren, dass hier nicht nur Mama und Onkel, sondern auch Opa zur Schule gingen. So alt ist die Schule schon? Zuletzt war ich hier, um Sprachbücher aus der Erbmasse meiner Mutter für die Schulbibliothek zu spenden. Den umlaufenden Zaun sah ich erst heute. Am Ritzebühl vorbei bis zum Tor an der Herderstraße, das jetzt gesichert ist wie die T.Rex-Anlage in „Jurassic Parc“. Die Steinstraße ist wieder durchgängig befahrbar. Mit zwei Fahrern zum Umziehen nach Hause, wir sind pünktlich.
25. Dezember 2019
Das hatte ich in den achteinhalb Jahren, seit ich diese meine Seite betreibe, noch nicht: fünf Texte zu einem Mann in unmittelbarer Folge, meine Vorarbeiten reichen für ein weiteres halbes Dutzend ohne viel zusätzlichen Aufwand. Ich werde den guten alten Fontane dennoch erst einmal austrudeln lassen und auf passende Gelegenheiten warten. Die Nacht war kurz: Enkel mit Geschenkeberg vor dem Fernseher im Wohnzimmer haben die Neigung zu kurzen Schlafzeiten. Immerhin: sie sahen den Weihnachtsmann noch, wie er sich eben von unserem Hauseingang davon machte. Leicht nach vorn gebeugt, die Lasten krümmen auch gestählte Weihnachtsmännerrücken. Es gelang mir, den größten Teil der Verpackungen noch in den Papiercontainer zu entsorgen, die ersten Nachbarn, die ungefaltete Großcartons einwarfen, hatten ihr Unwesen schon getrieben. Es ist einfach zu schwer, komplizierte Übungen wie Mitdenken fehlerfrei auszuführen, hat man sich gegenseitig beschenkt.
24. Dezember 2019
Gut, dass es noch dauert, bis unsere klimafreundlichen Fleischersatzforscher aus Stammzellen nicht getöteter Tiere Pseudo-Rouladen und Pseudo-Bratwürste zu Preisen marktreif gemacht haben werden, die nicht nur von chinesischen Milliardären oder grünen Weltrettern auf Steuerzahlerkosten vertilgt werden können. Bis dahin setze ich mich am schneefreien Heiligabend (der Klimawandel) in mein E10-freies Benzinauto (Abholzung südamerikanischer Wälder für Öl auf unsere Mühlen respektive in unseren Tanks) und fahre zum Fleischer meines Vertrauens, bei dem wir zur rechten Zeit Würste und Rinderrouladen bestellt haben, erwerbe dazu noch eine weiche Knackwurst, nachdem ich die Frage, ob mit oder ohne Kümmel mit: ohne Kümmel, beantwortet habe. Das Kaninchen für den ersten Feiertag ist bereits in essbarem Zustand, Kloßkartoffeln aus Heichelheim lagen noch im Keller, auch ein Kartoffelsalat zieht bereits. Nur die Uroma wird erstmals fehlen.
23. Dezember 2019
Erstmals in meinem langen Schreibleben beende ich an einem Tag zwei Texte für www.eckhard-ullrich.de, was damit verbunden ist, auf dem Schrittzähler eine vierstellige Zahl zu sehen, die ich mich zu nennen schäme. Ein Anruf aus unserem Jahreswechsel-Domizil erreicht mich: Wein ist schon da, Bier ist schon da, alle sind schon da, nur wir fehlen noch. Das dauert dann noch ein paar Tage, weil morgen erst einmal Enkel-Einflug angesagt ist, wir werden sie natürlich verwöhnen, weil das Oma- und Opa-Job ist und ich denke, auch Opas waren einst verwöhnte Kinder bei ihren Opas, an den Werbe-Onkel Otto des Hessischen Fernsehens, den ich liebte mit sieben oder acht Jahren, den es zu Hause mangels Fernseher nicht gab und wohl auch nicht gegeben hätte. In Filmen aus dem fernen Amerika werden weite Teile des Dialoges mit den Worten „okay“ und „o my god“ bestritten, was es verständlich macht, dass diese Menschen wählen, wen sie wählen: Agent Orange.
22. Dezember 2019
Heute wäre Hugo Loetscher 90 Jahre alt geworden, wenn er sich etwas Mühe gegeben hätte wie etwa meine Mutter, die beinahe 91 Jahre alt geworden wäre, wenn nicht so viel Wasser in ihrer Lunge gewesen wäre. Nach so viel wäre denke ich an Frank, der seinen 66. Geburtstag vor einem Jahr noch erlebte, ohne ihn zu erleben, was man künstliches Koma nennt. Ein Jahr später ist es ein seltsamer Gedanke, dass wir heute feiern könnten, weil Sonntag ist, an Sonntagen war er auf keiner Baustelle im fernen Westen und wir können trotzdem nicht feiern, weil er tot ist. Seit meine Mutter nicht mehr lebt, ist mir der Tod nahe wie nie, täglich habe ich mindestens einen Gedanken, was ich wohl nicht mehr tun oder erleben werde. Es ist schrecklich viel. Ein verblödeter Fußball-Reporter meint am Abend, er habe das letzte Bundesliga-Spiel des Jahrzehnts gesehen. Diese Trottel-Art feierte weiland auch das neue Jahrtausend ein Jahr zu früh, sie hatte beim Abitur Mathe abgewählt.
21. Dezember 2019
Mein persönlich mit den Farben Blau (für Todestage) und Orange (für Geburtstage) geführter Jubiläumskalender im Format A4, steife Pappe, weist für heute den 100. Geburtstag von Gerd Semmer aus, eine unter Datenkraken herausragende Informationsplattform verrät mir, dass er in Paderborn geboren und nicht einmal 50 Jahre alt wurde. In seinem Todesjahr beglückte er gemeinsam mit André Müller senior die Welt mit einer Sammlung von Brecht-Anekdoten, welche der Leipziger Reclam-Verlag schon zehn Jahre später auch den Lesern der DDR vor die Füße schleuderte. Man kann übrigens die Anekdoten noch heute mit Genuss lesen, was wenig mit Semmer und Müller, viel mit Brecht zu tun hat. Die gestrige Feier in der Steinstraße im Kreis der üblichen Verdächtigen konfrontierte mich mit einer Sorte schottischen Whiskys, die mich daran erinnerte, warum ich entweder keinen oder irischen Whiskey trinke. Ich ändere mich nicht mehr.
20. Dezember 29019
Beim Vernichten eines 25 Jahre alten Einzelheftes des „Eulenspiegel“ stoße ich auf Namen, die mir irgendwie bekannt vorkommen. Ich grüble kurz, aber erfolglos. War da was? Ach ja, eine DDR. Über die man Witzchen riss, solange sie da war. Die man aber, rückblickend, gar nicht so schlecht fand, weil sie eigenen Sonderstatus ermöglichte. Beim Sieger im Klassenkampf ging man unter, man war nicht einmal nur schlicht vergessen, es gab einen gar nicht, nie da gewesen. Manchmal, auf Buchmessen, traf man sich, klopfte sich auf die Schulterblätter: Du auch ohne Honorar einmal im Monat im Blatt? Du auch ohne Verlagsabrechnung? Man kann die Ilmenauer Stadtlinie jetzt für 1,40 Euro benutzen und ich will mir nicht einreden, dass die jüngsten zehn Cent Aufschlag mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel im Ilm-Kreis zu tun haben. Die Kommunalisierung des Nahverkehrs kostet Geld, das mangels melkbarer Imperialisten vom Fahrgast genommen wird.