Tagebuch

5. Juni 2019

Die Briten begannen heute schon mit den D-Day-Feiern. Vor 44 Jahren nutzten sie den Tag, um mit 67,2 Prozent für den Verbleib in der EU zu stimmen. Vor 75 Jahren fuhren sie dann los in Richtung Normandie. Fünf Jahre später wurde Ken Follett geboren, dessen Bücher im Regal der Rentnerin an meiner Seite stehen, weil ich nicht zu den ganz großen Ken-Follett-Fans gehöre. Gestern gehörte ich zu den beiden Fans auf unserem Balkon, die mit einem leichten Etschtaler Edelvernatsch die Balkon-Saison eröffneten. Es gibt tatsächlich noch trockene Rotweine, die nicht mit Alkohohlgehalt ab 14 Prozent aufwarten. Der Klimawandel, sagen wir mal, ist verantwortlich, dass wir nicht mehr einfach Rotwein trinken können, weil wir viel früher besoffen wären. Wir müssten warten, bis die ersten norwegischen oder grönländischen Rotweine auf den Markt kommen, wenn aber nun Greta aus Schweden den Klimawandel bremst auf seiner Zielkurve, hilft nur noch Nordhang-Weißwein.

4. Juni 2019

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Wann aber lobt man den Abend? Am Tag danach. Für den dicken Günter Strack war der 4. Juni sein Geburtstag, 90 Jahre alt wäre er heute geworden, wenn er nicht, wie meine Ärztin sagen würde, so fürchterlich übergewichtig gewesen wäre. Wenn viele von seinem Umfang Cäsar umgeben hätten, der angeblich von Dicken umgeben sein wollte, wäre es nicht zu jenem Messer-Einsatz gekommen, der Cäsar den Tod und Brutus den Ruf des Tyrannen-Mörders eingebracht. Denn niemand hat einen so langen Arm, auch mit Messer in Stichnähe eines Kaisers zu kommen, wenn der von Stracks umgeben ist. Am 4. Juni 1919 stimmte der Senat in den USA dem 19. Zusatzartikel zur Verfassung zu, was zur Einführung des Wahlrechts für Frauen führte. Vielleicht sollte man zwischenzeitlich das Männer-Wahlrecht abschaffen, damit dieser orangene Mann nicht erneut gewählt wird, der mit sehr heißen Tipps nach England kommt.

3. Juni 2019

Fürchterliches droht: Greta Thunberg, heilige Johanna des Kinderkreuzzugs gegen Klimawandel, will ein ganzes Jahr lang nicht mehr in die Schule gehen, weil sie nur noch kämpfen mag. Als die Parteisekretärin der Sektion Journalistik in Leipzig 1973 mich trösten wollte, nachdem mir ihr Laden meinen Studienplatz eben weggenommen hatte, wegen ideologischer Rückentwicklung, wie es hieß, hieb sie mir auf die Schulter und sagte: „Werden Sie ein Kämpfer!“ Schade, dass es damals noch keinen Klimawandel gab, nur der Wald starb im Westen, aber der verbarg sich hinter einer Mauer. Wir sollten Greta dankbar sein, denn wenn sie auch natürlich nichts gegen den Klimawandel bewirkt, hat sie doch den Parteien geholfen, eine sehr preiswerte Erklärung für ihr mieses Ergebnis bei den jüngsten Wahlen zu benennen. Verfehlte Klima-Politik, herrlich. Ansonsten ist heute der 175. Geburtstag von Detlev von Liliencron, dem das Klima auch schon hübsch zu schaffen machte.

2. Juni 2019

Gut, dass Andrea Nahles eine Frau ist, so ist erstmals eine Vorsitzende von dem seltsamen Job des SPD-Vorsitzes entschwunden, bis dahin waren es Männer in halber Kompanie-Stärke seit 1990. Noch der Job als HSV-Trainer ist zukunftssicherer als das Amt im Willy-Brandt-Haus (wer übrigens war eigentlich Willy Brandt?). Unsereiner kommt ahnungslos vom Feiern aus Gera, wo der erste einer mit dem heutigen Sonntag beginnenden Reihe von 70. Geburtstagen im Kreis der Familie zu begehen war, bestes Wetter, und dann trifft uns der Schock (hahaha!): unrasierte Politikexperten stellen ernsten Gesichtes die Frage, ob die SPD überhaupt noch eine Volkspartei ist und wieder einmal ist die Chance für einen Neuanfang da, die zügig beim Schopf ergriffen werden soll. Aber der Neuanfang hat vielleicht eine Glatze und man kriegt ihn nicht oben, man muss ihn vielleicht am Schwanz packen. Ansonsten las ich noch eine Akte der Schiller-Stiftung, Herausgeber Wulf Kisten.

1. Juni 2019

Bisweilen findet man auch den 4. Juni 1919 als ihren Todestag, es war aber der 1. Juni. Am 4. Juni wurde die Urne mit ihrer Asche bestattet. Seit hundert Jahren ist sie also tot: Hedwig Dohm, etwas wie Ur-Mutter und Grande Dame der Frauenrechtsbewegung zugleich, Autorin diverser Bücher, die immer wieder aufgelegt werden, Verfasserin von Bühnenstücken gar, die allerdings längst niemand mehr spielt. Sie war die Großmutter von Thomas Manns Gattin Katia und elftes der achtzehn Kinder ihrer Eltern: das waren Zeiten. Mit einem „Krebsbüchlein“ und einem „Ameisenbüchlein“ ist der am 1. Juni 1744 geborene Christian Gotthilf Salzmann bis heute selbst Menschen bekannt, die nie die Salzmannschule in Schnepfenthal besuchten wie einer meiner ehemaligen Kollegen. Das „Ameisenbüchlein“ versteht sich als „Anweisung zu einer unvernünftigen Erziehung der Kinder“. Darin zu lesen: ein Vergnügen. Dennoch halte ich mich heute wie schon oft an Ödön von Horváth.

31. Mai 2019

Also: wer es nicht weiß, wie ich es bis eben nicht wusste: ein Urning ist ein männlicher Schwuler, respektive Homosexueller, während eine weibliche Homosexuelle, eine Lesbe, eine Aminde ist. Diese Bezeichnungen hat ein Mensch namens Karl Heinrich Ulrichs erfunden, wofür ich ihm leider nicht dankbar sein kann. Immerhin: habe ich in meinem ins Übermaß geglittenen Geburtstags-Artikel noch die eine oder eine Verkniffenheit im Umgang mit Walt Whitman dokumentiert, feiert queer.de heute den 200. Geburtstag des „Edelurnings“ Whitman. Google fragte mich zunächst, ob ich vielleicht „Edeltuning“ meine, was ich aber nicht meinte. So verlasse ich voll Bildungsgutes, das ich nicht erstrebte, den Wonnemonat Mai. Meine achte Rente polstert mein Girokonto nach, der Frau an meiner Seite wird ihre erste Rente zuteil, auch der Zusatzrentenbescheid ist da. Früher war zwar mehr Lametta, dafür gibt es jetzt ständig warme Mahlzeiten zu Mittag. Und morgen ist Juni.

30. Mai 2019

Der 30. Mai vor zehn Jahren war ein Sonnabend und ich las nicht nur über „Wallenstein“ in Fischer-Dieskaus „Goethe als Intendant“, ich sah auch das Pokal-Endspiel mit dem Sieg meiner Alt-Lieblingsmannschaft Werder Bremen gegen meine Nie-Lieblingsmannschaft Bayer Leverkusen. Das Siegtor erzielte ein gewisser Özil, den ich gestern bedröppelt auf der Bank sitzen sah, nachdem Chelsea Arsenal den Abend vermasselt hatte. Heute ist Christi Himmelfahrt, in der Schweiz auch Auffahrt genannt, man gedenkt jener Zeiten, da große Höhen noch erreicht wurden ohne nur einen einzigen Liter Flugbenzin oder Raketentreibstoff, nur mit der Rückkehr zur Erde klappte es damals noch nicht. Es ist vom Vater gesorgt, dass die Bollerwagen-Touren zu Ehren des hohen Sohnes bei schönem Wetter stattfinden können, so sagt es jedenfalls die Vorausschau. Ich lese heute zweckvoll Cesare Pavese und John Updike, um einen längeren Text abschließen zu können: Morgen im Netz.

29. Mai 2019

„Die meisten Bücher sterben in den ersten Jahren an Kinderkrankheiten. Die bösartigste heißt: Aktuellitis; man war so aktuell, dass man die Saison nicht überlebte.“ Der Satz stammt von Ludwig Marcuse, steht in einem Essay über Joseph Roth. Heute könnte man anstelle von Bücher auch Theaterspielpläne sagen, sie leiden nicht nur an viel zu hohem Roman-Spiegel, sondern zeitgleich leider und darum umso ärgerlicher, auch an Aktuellitis. Die Kritik hat sich in ihrem Sprachgebrauch an die Verhältnisse angepasst: sie schreibt vom Buch des Monats, gar der Stunde, und wenn einer oder eine so ein Buch auf den Markt brachte, als dieser gerade danach plärrte, sitzt er oder sie in jeder Literatursendung oder Talkshow, steht in jedem Feuilleton ein großes Interview, es ergeben sich bisweilen sogar Nachfolge-Aufträge: man darf den Experten spielen für Dresden oder Görlitz, vegane Tierhaltung oder Integration. Die Wahlergebnisse kenne ich nun auch. Es wird interessant.

28. Mai 2019

In Ilmenau muss man sehr tapfer sein, wenn man heuer auf das Wahlergebnis vom Sonntag wartet, auch der Ilm-Kreis hängt wegen Ilmenau in der Luft. Vielleicht ist es doch besser, nicht von der Maas bis an die Memel zu reichen. Immerhin: passend zur Kommunalisierung des Busverkehrs muss ich ab Juli zehn Cent pro Fahrt mehr bezahlen in der Kernstadt, Wochen- und Monatskarten werden auch deutlich teurer. Dafür dürfen die Großbreitenbacher für weniger Geld nach Ilmenau fahren. Preisfrage: Aus welcher Stadt kommt unsere Landrätin? Weil gestern Joseph Roths Todestag war, habe ich heute noch einmal meine Aufmerksamkeit ihm gewidmet. Ich kann auf rund 300 Druckseiten eigener Aufzeichnungen aus den Jahren 2006 bis 2008 zurückgreifen, was mir hilft natürlich, vor allem wenn auch andere Themen warten. Die Medien nerven mit ihren Dauer-Europa-Orakeleien von Sendung zu Sendung mehr: mich interessiert der linke Zusammenbruch im Kreis.

27. Mai 2019

Am 27. Mai 1994, es war ein Freitag, hatte ich meinen bis heute einzigen Einsatz als Hochzeits-Fotograf. Ich belichtete auch die eben fallende letzte Altsubstanz in der Goethe-Passage, die eine Weile unter Denkmalschutz gestanden hatte, dann aber doch durch eine neue letzte Ecke ersetzt werden durfte. Mein Schwager bereicherte den Bestand meiner Verwandtschaft um eine neu hinzu kommende Schwägerin, mit der er heute wegen der erreichten Silberhochzeit eine so genannte Kreuzfahrt absolviert. Für mich ist der heutige Montag natürlich der 80. Todestag von Joseph Roth, dem in diesem Jahr auch noch ein 125. Geburtstag folgen wird, zu dem ich mich im befreundeten österreichischen Ausland befinden werde. Schon heute haben ihre 125. Geburtstage Celine und Dashiell Hammett. Seit „Der dünne Mann“ im Juli 1971 las ich nichts mehr von Hammett und Celine ist mir ein Blindband, um nicht zu sagen: ein Buch mit sieben Siegeln. Dafür gilt Roth.

26. Mai 2019

Am 26. Mai 1989 erschien anlässlich des 50. Todestages von Joseph Roth am nächsten Tag mein bis heute einziger gedruckter Beitrag zu Roth in NEUE HOCHSCHULE, was ein Organ war und heute keines mehr wäre. Meine Beiträge für das Organ, sagte einmal mein alter Lateinlehrer zu mir, als er noch ein jüngerer Lateinlehrer war, sollte ich doch mal sammeln. Nun, ich habe alle meine Beiträge gesammelt, nur die rein journalistischen nicht, also die Berichte vom Neubau von Kläranlagen oder von der Versiegelung einer alten Deponie und den Schafen, die später dort grasen sollten. Einer verriet mir gestern, dass er beim Lesen meines Shakespeare-Buches das eine oder andere Erlebnis gehabt habe, das mit dem Wort „Aha“ in Verbindung gebracht werden könnte. Er verlangte auch in sehr regelmäßigen Abständen eine Sandschale von den wechselnden Kellnern, um Räucherstäbchen in ihr abbrennen zu können. Wir wählten heute verschiedene Kandidaten mit genau sieben Kreuzen.

25. Mai 2019

Zusagen und nicht kommen ist schlimmer als sich nicht melden und dann doch kommen. Ich habe mich im letzten Moment gemeldet und bin gekommen. Die Altvorderen, die sich selbst Fossilien nennen, versammeln sich einmal im Jahr am Technologieterminal, den sie noch unter dem Namen Bahnhof kennen, um dann ein wenig zu wandern, unterwegs Gehacktes zu essen, was in Gegenden, aus denen manche anreisen, Mett genannt wird, ein wenig Bier zu trinken zu sauren Gurken und dann in eine vorher nicht allen bekannte Gaststätte einzurücken, dort etwas mehr Bier zu trinken, mehr zu essen und alter Zeiten zu gedenken, als die Welt noch in Unordnung war. Mich beglückte einer der Freunde mit einem Heidelbeer-Bier aus Beelitz, ich beglückte niemanden, weil es in diesem Jahr kein neues Buch gibt von mir bisher. Das lag vielleicht daran, dass wir uns vor der Mensa versammelten statt am Bahnhof, vielleicht war es auch der Klimawandel. Oder der Brexit.


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