Tagebuch

29. Juni 2019

Nachtrag: Wir brechen den Laufrekord vom 25. April, allein Hin- und Rückweg zur Fähre machen 7500 Schritte aus, verrückte Marotte nun, darauf zu achten. Am Ende aber stehen Kondition und Gesundheit. Die Überfahrt nach Maderno dauert nicht viel mehr als 20 Minuten, vom Erdbeben des Jahres 2004 sehen wir keine Folgen mehr, das Epizentrum lag zwischen Maderno und Gardone. Aus Maderno stammte das Papier für Luthers Bibel-Übersetzung, was man nicht wissen muss, aber man leidet auch nicht, wenn man es weiß. Wir werfen einen Blick durchs Tor der Villa Lucia, die im Internet noch zum Verkauf steht, man sieht den Zitronen-Garten, wie man ihn ähnlich aus Limone kennt, alles ist irgendwie auch Palazzo Bulgheroni. Natürlich werfen wir ungetauften Katholiken auch einen Blick in die kleine Kirche, es ist heute Namensfest der Apostel Peter und Paul, denen die Kirche gewidmet ist. In aller Heimlichkeit habe ich Fingerspitzen ins Weihwasser getaucht: Sünde.

28. Juni 2019

Nachtrag: es sind 13094 Schritte auf den Zähler gekommen gestern, heute werden es nur 11340: zu Hause seltene Werte. Wir fahren für 8,40 Euro nach Malcesine und dort für 37 Euro zu zweit auf den Monte Baldo, meine Rentner-Karte spart mir immerhin 7 Euro, auch im Museum in Torri haben wir schon die neuen Preis-Privilegien genossen. Oben ist es nahezu frisch im Vergleich zu unten, wir laufen bis zur Abflug-Stelle der Paraglider und schauen zu wie neugierige Kinder. Es muss unten eine Wasserlandung gegeben haben, wie wir aus dem Funkverkehr mithören, aber keinerlei Katastrophe. Unten nehmen wir noch die uns schon aus 1993 bekannte Scaligerburg mit ihrer nun erweiterten und sehr ansprechend gestalteten „Sala Goethe“ mit. Eine größere Gesellschaft von Engländern zelebriert eine Hochzeit in der Burg. Die Engländer sind, wie es ihnen zusteht, laut und platzgreifend, man muss sie umkurven. Ihr Hoffotograf brüllt, als wolle er jeden Löwen beschämen.

27. Juni 2019

Nachtrag: Denn der Seeblick ist mit ganztägiger Vollstrahlung jener Sonne verbunden, die uns 40 Grad im Schatten beschert, wie wir vor dem Klimawandel sagten. Auch jetzt ist der Wechsel aus dem bestens klimatisierten Zimmer auf die Mini-Terrasse wie ein übergangsloser Wechsel aus dem Tiefkühlfach in die 90-Grad-Sauna. Torri ist ein Stück weg, wir laufen unter Olivenbäumen auf einer leidlichen Uferpromenade bis zur Anlegestelle der Fähre nach Maderno. Sehen das Museum und besteigen in der Scaligerburg alles, was zu besteigen ist. Das italienische Eis ersetzt uns die Zwischenmahlzeit, die wir kaum brauchen zwischen dem Frühstück und dem viergängigen Essen am Abend. Das Personal besteht komplett aus Hintergründlern, die Zimmermädchen sehen aus wie aus Pakistan oder Bangladesh. Alle sagen fein „Buon Giorno“. Nach dem Abendessen noch ein Probelauf zur Bushaltestelle in Richtung Malcesine, denn wir haben nur einen Ausflug vorgebucht.

26. Juni 2019

Nachtrag: Zustieg am Hauptbahnhof 4.25 Uhr, besonders ausgeschlafen sind wir nicht. Das Taxi wartet schon vor 4 Uhr an der Haustür, es ist noch arg frisch. Der Zubringer fährt zum Hermsdorfer Kreuz, wo vier verschiedene Touren starten, es geht erst los, als auch der letzte der vier Busse eingetroffen ist. 13.14 Uhr passieren wir die Grenze zu Österreich, 15.11 Uhr die nach Italien. Wir sind die Stecke so oft mit dem Auto gefahren, dass ich bei den österreichischen Abfahrten fast immer weiß, welches die nächste ist. In Mori halten wir, wo alle Busse halten, wo unser Bus neues Wasser fasst in Einwegflaschen, die nicht zu den Pfandautomaten getragen werden müssen, ich lade vier Flaschen Wein, drei weiß, eine rot, noch wissen wir nicht, wie unser Hotelzimmer-Kühlschrank arbeitet. Für den weißen reicht es nicht an diesem Abend, aber wir haben einen feinen Lagrein aus Girlan, der den Tischwein bestens ergänzt. Unser Zimmer 156 hat keinen Seeblick, das ist sehr gut.

25. Juni 2019

Die angekündigte Hitze ist da, die Koffer sind gepackt so früh wie selten, Rentnerinnen haben, anders als Rentner, doch Zeit. Für all meine unersättlichen Leser habe ich einen sehr kurzen alten und einen ziemlich langen neuen Text vorbereitet, die Anfang nächster Woche zu lesen sein sollen. Denn das Tagebuch muss schweigen, bis die Nachträge fällig werden. 1948 weilte Andrè Gide drei Monate dort, wo wir Quartier nehmen werden. Sein Tagebuch 1939 – 1949 soll davon berichten, ich kenne es nicht und kann es also nicht bestätigen. Wir werden sicher die Seilbahn auf den Monte Baldo erstmals benutzen und von den angebotenen Ausflügen nur einen mitmachen: der mit einer Weinverkostung gekoppelt ist. Unsere beiden vorjährigen Weinverkostungen in der Toskana sind noch in Erinnerung, die zweite war höchsten Ansprüchen genügend. Wir lieben Seefahrten auf Seen, deren Ufer man sehen kann. Den Grund der Seen müssen wir dabei nicht unbedingt sehen.

24. Juni 2019

Ein Hin- und Her-Tag, erst nach Pennewitz, der Schönheit wegen. Dort eine große Runde am ehemaligen Schwiegerelternhaus vorbei in Richtung Bienenhaus und Erdfall. Am Erdfall alter Spaziergänge gedacht, des ratlosen Mannes im Landratsamt, der den Erdfall nicht kannte, obwohl er ein Erdfall-Büchlein veröffentlicht hatte. Der Experte, wir erinnern uns, weiß von immer weniger immer mehr, bis er am Ende von nichts alles weiß. Jetzt schaut der Erdfall aus wie ein Biotop aus dem Bilderbuch, die Frösche hatten leider gerade Mittagspause. Dann nach Gehren, dann von Gehren in die Ilmenauer Poliklinik, dann von der Poliklinik nach Gehren, Termine in den Kalender geschrieben zur Erinnerung. Da bleibt am Abend nur der Balkon mit einem Viognier von den Côtes du Thongue, wir kannten von dort bisher lediglich Sauvignon. Sauberer Tropfen. Entscheidung, was meine Lektüre im Urlaub wird: Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner.

23. Juni 2019

Wenn ich krypto-türkische Sprechgesänge mit idiotischen Texten zu vollidiotischer Musik überlaut in die Ohren gehauen bekomme, muss ich nur aus dem Fenster schauen, um zu sehen, wessen Eltern gerade ihren Kevin allein zu Hause ließen. Es hat keinen Zweck, Death Metal aus Norwegen oder Schweden dagegen schallen zu lassen, es trifft die Falschen, weil es immer die Falschen trifft. Ich denke dann immer gern an einem Volontär, den ich in Arnstadt hatte, aus dem Westen in die Ex-Zone geraten, der mir erklärte, im Ostrock wäre ihm zu viel Text gewesen. Verglichen mit diesen Fuchtelheinis, die die kleinen Jungs und die kleinen Mädchen zutexten und gern aussehen wie US-Gangster und prinzipiell grimmig gucken, als wäre dies das einzige Erfolgsgeheimnis, waren alte Ostrocker Schweigemönche, die allenfalls in kleinen Dosen Lyrisches absonderten und zudem auch noch ein Musik-Diplom brauchten, ehe sie auf die Ostmenschheit losgelassen wurden. Genau so.

22. Juni 2019

Von der Genossenschaft gestern ein Schreiben mit der Ankündigung eines Experiments in der Sperrmüllentsorgung. Ich erkenne den Schwachsinn schon, als ich den Text halbwegs überflogen habe. In meinen paar Jahren als berufener Bürger im Kreistagsausschuss Landwirtschaft, Umwelt und Forsten, dem die Müllentsorgung zugeordnet war, half ich einst mit, diesen debilen Quark zu verhindern. Inzwischen hat sich die beschließende Fraktion derer, die nicht in Plattenbauten wohnen, wo Einzelentsorgung auf Antrag mit anschließender Komplettverantwortung der Mieter schlicht unrealisierbar ist, ohne schwerste Konflikte heraufzubeschwören, offenbar durchgesetzt. Ich werde mich nicht neben zwei alte Matratzen setzen, um mit einem Baseballschläger in der Hand zu verhindern, dass irgendjemand meinem Haufen etwas hinzufügt, das ich dann zu entsorgen habe, weil der Entsorger es als unangemeldet nicht mitnimmt. Herr, lass Hirn regnen auf die Entscheider.

21. Juni 2019

2462 Wörter sind es geworden, die ich dem Thema „Fontane sieht „Minna von Barnhelm““ widme. Wie meist hätten es mehr werden können. Da heute aber auch für mich „Minna von Barnhelm“ auf dem Abendplan steht, wollte ich es hinter mich bekommen. Ich habe ein kurzstrophiges Loblied für die neue vierbändige Sammlung der Theaterkritiken Fontanes eingeflochten respektive eingewoben und die Damen gelobt, die diese vier Bände verantworten. Solide Arbeit ist etwas, was für sich spricht und in falsche Hände fallen Bücher dieser Art ohnehin nicht, ihnen fehlt das Spektakuläre. Auf einem alten Briefumschlag neben meinem Schreibplatz steht: „Niemand ist tot, nur weil er gestorben ist.“ Darunter das Datum 13. Juni 2019. Ich schreibe manchmal solche Sätze auf alte Briefumschläge und acht Tage später weiß ich nicht mehr, in welchen Zusammenhang das gehört. Wenn ich mehr Zeit hätte, müsste ich nachdenken, ob das der Anfang ist oder doch eher das Ende.

20. Juni 2019

Donnerstage bleiben Bäcker-Tage und Zeitungstage, auch wenn der Abend auf einen Geburtstag fällt und die Woche darauf der Urlaub im Süden beginnt. Im Tiefkühlfach lagern jetzt mehr Kühl-Akkus als gefrorene Semmeln, wir verspeisen Vorräte, um Platz zu schaffen ohne Waffen. Wir wissen inzwischen, dass der orangefarbene Mann im „Weißen Haus“ eine zweite Legislaturperiode anstrebt, es heißt, er habe zunächst einmal 23 Kandidaten gegen sich, die wie stets die Nummer unter sich auskegeln. Das Geburtstagskind ist schon ziemlich groß, es wächst nicht mehr, wird mit Hilfe unseres Geschenkes noch luxuriöser auf seinem Balkon grillen können, wozu ihm sein lieber Onkel auch noch eine Grillschürze und eine Grillzange schenkte, welche es im internetgestützten Grillzangen-Handel einfach nicht so schön gibt. Wir essen in einem Gasthaus, welches wir öfter für solche Zwecke nutzen und als wir fertig sind, sehen wir draußen über Ilmenau zwei Regenbögen.

19. Juni 2019

Es ist stets ratsam, geschenkten Eintrittskarten noch einmal volle Aufmerksamkeit zu widmen, ehe man sich auf den Weg begibt, ihren Segnungen zu folgen. Heute sollte es eigentlich ins Pelto-Bad Sohnstedt gehen, das wir noch nie in der Woche besuchten, uns aber mit hübscher Regelmäßigkeit den ersten Sonnenbrand des Jahres einbrachte. Nun macht das Bad in der Woche aber erst 14 Uhr auf, wogegen nichts einzuwenden ist, es sei, man steht 10.30 Uhr mit beiden Taschen beladen am Auto. Die Schnellschuss-Alternative ist Hohenfelden. Man kann darüber nachdenken, wie man dort hinkommt, wenn die Ortsdurchfahrt Stadtilm gesperrt ist, muss aber nicht. Folgt man den Schildern für eine Umleitung, fährt man allerdings über Paris nach Rom, zumal es noch eine weitere sehr widerwärtige Sperrung im Ilm-Kreis gibt. So lernten wir interessante Gegenden kennen, ich sah Dörfer wieder, in denen ich seit meinen Zeitungsjahren nie mehr war, alles für 8 Stunden Sauna.

18. Juni 2019

Weil heute der 90. Geburtstag von Jürgen Habermas ist, ziehe ich eines meiner Habermas-Bücher aus dem Regal und zitiere: „Im Sommer 1988 ist der Reclam-Verlag Leipzig mit dem Wunsch an mich herangetreten, ein Buch zu veröffentlichen – mein erstes in der DDR. Nun ist es soweit. Aber eine DDR wird zum Zeitpunkt des Erscheinens nicht mehr existieren.“ Habermas schrieb das im Juli 1990, da stellte meine erste Nachwende-Zeitung gerade ihr Erscheinen ein, weil ihre Mission, im Osten den Boden für ein Anzeigenblatt zu bereiten, erfüllt war. Die zweite Nachwendezeitung breitete sich von Westen her in Richtung Kaukasus aus, was ihr in Ostthüringen kalte Füße brachte und schon Ende 1991 den Tod durch Fusion. Mein Interesse an Habermas war so lange groß, wie er unerreichbar war. Kaum stand die lange Reihe seiner Suhrkamp-Taschenbücher Wissenschaft in meinem Regal, entfernte ich mich von meinen philosophischen Wurzeln. Jetzt nervt seine Sprache.


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