Tagebuch

4. August 2019

Dortmund hat tatsächlich den ersten Titel der noch gar nicht begonnenen Saison gewonnen. Jena holt sich die vierte Niederlage in Folge, ob die Mannschaft oder der Trainer rausgeworfen wird, ist offen. Wir leben aus den Tiefkühlfächern, es reicht für alle drei Mahlzeiten des Sonntags. Alle Balkonpflanzen haben überlebt, die Orchideen im Arbeitszimmer sind nun endgültig ohne Blüten, zwei tapfere Restblüten im Gästezimmer, trotzige Überlebende. Verabredung für morgen geregelt. Morgenlektüre: Theodor Wiesengrund Adorno, das erste der neun kritischen Modelle, Titel „Wozu noch Philosophie“, der Titel ohne Fragezeichen. Ich sehe den ungeheuren verlegerischen Mut der „edition suhrkamp“, eigentlich schwer verkäufliche Bücher zu einer Reihe zu bündeln. Wer ein Buch mit „Wozu noch Philosophie“ eröffnet, pfeift auf Lesegewohnheiten und ermittelbare Befunde von Leserverhalten. Zeitungen dieser Praxis blieben nach kurzer Zeit ohne Leser, sehr zu Recht.

3. August 2019

Am Abend stehen mehr als 50 gelaufene Kilometer in einer Woche zu Buche, die 23. Berliner Biermeile bringt dabei gar nicht so viel wie gedacht, denn man geht langsam im Gedränge. Zwei neue Gläser, erstmals auch das Band zum Anhängen mit Bajonett-Verschluss. Wir genehmigen uns drei verschiedene Kirschbier nach einem tschechischen Vorglas, lesen hübsche T-Shirt-Aufdrucke: Bitte nicht schubsen, ich trage ein Bier. Expedition ins Bierreich. Frieden mit Bier – wie mag das in bierfernen Volksgruppen wohl wirken? Zwischendrin kostümierte Menschen, viel Musik auf vielen Bühnen. Immer mal ein Blick auf die Fassaden der Karl-Marx-Allee, die ihre ersetzten Kacheln stolz herzeigen und einige einfarbige Fahnen, deren Sinn uns entgeht. Vermutlich Kampfsignale, der Klassenfeind will die Arbeiter- und Bauern-Wohnungen okkupieren, was den Arbeitern und den Bauern in den Quartieren missfällt. Besonders den Bauern. Wir landen abermals pünktlich in Erfurt.

2. August 2019

Plötzlicher Starkregen sieht im Fernsehen deutlich besser aus als in der so genannten Wirklichkeit. Wir stehen lange am Löwentor des Berliner Zoos in dem Unterstand für Bollerwagen, wollten noch die Eisbären besuchen, aber da ging es los wie aus Eimern und Gießkannen in Kombination. Zuvor sahen wir natürlich die Pandas, größten Eindruck machten die Strauße und die Emus, man kennt die Vorlieben seiner Enkel am Ende doch nicht, es sei denn, die Liebe zu Eierkuchen mit Apfelmus. Wir spielen kleine Familie plus Pressekarte, was uns nur 26 Euro kostet. Der zweite Schrittrekord in Folge nach den gestrigen 17166 fällt buchstäblich ins Wasser, eine weitere Stunde im Zoo und der Heimweg zu Fuß hätten ihn locker bewirkt. Wir müssen im Hotel klatschnasse Sachen wechseln, ehe wir erneut von Wieland zu Goethe wandern. Für Sonnabend verabreden wir einen ruhigen Start in den Tag, wir werden beim Bäcker frühstücken. Alle Bieretiketten lösen sich von den Flaschen.

1. August 2019

Als wir dem Ziegenhof in der Danckelmannstraße zuwandern, nutzen wir auch den Horstweg, über dessen Namen wir uns freuen. Der Ziegenhof ist eine Oase mitten zwischen Häusern, ruhig und grün und mit echten Ziegen, echten Hühnern, echtem Spielplatz. Zwischendurch wird die zweite Runde Erdbeer-Marmelade gekocht, feinstpüriert für empfindsame Enkelzungen. Bei „Mein Hoffi“ finde ich weitere unbekannte Biersorten, auf dem Mommsen-Spielplatz lesen wir Sprüche über die hässlichen Kinder der Reichen und geldgeile Schlampen. Tatsächlich zeigen die Kinderwagen auf dem Mommsen, dass die Mütter kein kostenloses Essen für ihren Nachwuchs benötigen, eher weniger Hochmut und flachere Schuhe im Sand. Unser Abendessen nehmen wir auf dem Walter-Benjamin-Platz, der einigen Hohl- und Holzköpfen neuerdings als Anlass für Gehirnakrobatik über rechte Architektur dient. Mein zweiter Beitrag zu Herman Melville heute im Netz: 200. Geburtstag.

31. Juli 2019

Von Primo Levi, der sich 1987 das Leben nahm, steht nur „Das periodische System“ in meiner büchervollen Wohnung, nennenswert gekümmert hat sich um seinen heutigen 100. Geburtstag nur Marc Reichwein, der dafür bezahlt wird. Ich will mich also nicht lange ärgern, dass ich die gute Gelegenheit verstreichen lassen muss, ihm endlich einmal etwas mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Hier ist heute Karls Erdbeerhof in Elstal angesagt, man fährt mit einem Express-Bus hin, der nur so viele Fahrgäste mitnimmt, wie Sitzplätze vorhanden sind, was am Abend dann zu chaotischen Zuständen führt, weil von den zwei Millionen Berlinern, die außer uns auch in Karls Erdbeerhof den Spaß für Kinder haben wollen, tatsächlich nicht alle mit einer Million Autos angereist sind. Es gibt am Nachmittag Stromausfall, der alles lahm legt, was mit Strom betrieben wird, alle Kassen natürlich auch, alle Stellen, wo gebraten und gebacken wird, alles Licht. Lustig nur ohne Enkel.

30. Juli 2019

Diese merkwürdige Bundesbahn. Schon wieder hat sie uns auf die Minute pünktlich nach Berlin gebracht. Unser Stamm-Hotel gibt uns Zimmer 504 zum wiederholten Male. Wir schauen auf den S-Bahn-Spielplatz. Gestern die üblichen Gänge: zu Ambrosetti, zu Mitte Meer, ein kurzer Blick zu unserem Bäcker, bei dem wir heute frühstücken, ein kurzer Gang zu Langer Blomqvist, ich trage Essays von Margaret Atwood und ein Buch über Dostojewski ins Hotel, dazu ein Taschenbuch über Eva Strittmatter. Heute Drei-Spielplatz-Tour: vor dem Essen Goethe mit Wasser, nach dem Essen ganz allein auf dem Spielplatz der Eichendorff-Grundschule, schließlich noch der Karl-August-Spielplatz nach dem Eismichel. Am Ende des Tages 13680 Schritte, mehr waren es seit Anfang März erst dreimal. Renate Feyls Name geriet schon 1965 in die Hamburger ZEIT: in einem Bericht über ihr wenig erfolgreiches FDJ-Projekt mit Jugendlichen in der Ostberliner Karl-Marx-Allee.

29. Juli 2019

Da, wo Herbert Marcuse zeit seines Lebens akademisch und außerakademisch wirkte, schrieb und redete, stand Revolution nie ernsthaft auf irgendeiner Tagesordnung, vielleicht schrieb er deshalb so gern über Revolution. Die so genannte friedliche Revolution in der DDR ermöglichte es seiner sterblichen Hülle, auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, eben noch Ost-Berlin, zu finden, obwohl er in Starnberg starb. Heute vor genau vierzig Jahren. An seinem Grab stand ich schon. Man kann seine Sachen tatsächlich noch lesen, müsste ihm aber mit ganz anderen Fragen begegnen als seinerzeit, als aus Puddingpulver-Attentätern echte Bombenleger und Mörder wurden und alleweil von Marcuse faselten. Ich bin längst zu Ludwig Marcuse über gegangen, der mit Herbert nur den Familiennamen teilt, sonst nichts. Morgen werde ich an Renate Feyl denken, die 75 wird und keineswegs über sie schreiben. Schon weil ich viel zu wenig von ihr kenne und weiß.

28. Juli 2019

Vor fünfzig Jahren starb in Rostock der einstige Mitbegründer des DDR-Schriftstellerverbandes im Ostseebezirk, Erich Fabian, im Alter von 76 Jahren. Dass er einen Dostojewski-Roman schrieb, las ich eben erst im Lexikon, dass er „Von Puschkin bis Gorki“ schrieb, weiß ich aus meinem Bücher-Regal, wo das Bändchen über neun russische Dichter aus dem heute längst vergessenen Schweriner Petermänken-Verlag nicht ganz unpassend quer über meinen Tschechow-Beständen liegt. Ein Beitrag über Tschechow steht zwischen dem über Tolstoi und dem über Gorki. Das Buch ist auch wegen des Literaturverzeichnisses interessant, weil es auf Texte hinweist, die heute kaum noch jemand kennt. Pikant: Fabian weist auf seinen eigenen Roman als benutzte Quelle hin, auf die Idee muss man erst einmal kommen. Mein zweiter, deutlich längerer Melville-Text ist heute fertig geworden nach dem ersten gestern, ich kann also beruhigt gen Berlin reisen, alle Pflichten erledigt.

27. Juli 2019

In 8000 Jahren wird der Chiemsee verschwunden sein, weil die Tiroler Ache ständig Geröll hinein schiebt. Lese ich im Reiseteil der heutigen WELT, was mich nun sofort stark beunruhigt. Ich wollte zwar in den nächsten 2700 Jahren nicht an den Chiemsee fahren, werde es nun aber doch einmal tun müssen, falls sich nicht Greta Thunberg entschließt, hinfort freitags an der Quelle der Ache zu stehen und grimmig zu schauen. Knapp 2500 Wörter sind für meinen kleinen Beitrag zu Max Kommerell zusammen gekommen, weshalb ich ihn erst heute ins Netz stelle, gerade noch zeitig genug zum 75. Jahrestag seiner Beerdigung in Marburg. All meine Kommerell-Bücher stehen wieder im Regal, meine Inge-Jens-Bestände sind auch wieder an ihrem Platz, ihre Geschichte der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste liegt quer über Günter Grass, ein e mehr, und sie läge queer über ihm, was auch nur ein Kalauer ist. Für einen lauen Sonnabend reicht er hin.

26. Juli 2019

Am 7. August, entnehme ich der ZEIT IM OSTEN, erscheint bei Christoph Links ein Buch über Menschen, die nach einem Ausreiseantrag in den Westen kamen. Nachdem wir es immer nur mit den spektakulären Fluchten hatten: zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Ein weiteres Buch, das Christoph Links vielleicht nicht mehr verantwortet, weil er den Verlag ja abgab, müsste eines sein, das von Menschen handelt, die zu Hause blieben in der DDR, aber darunter leiden mussten, dass ziemlich beste Freunde nach dem Westen ausreisen durften. Ich könnte ein mehrstrophiges Lied davon singen. Nun ja. Inzwischen hat sogar Birgit Breuel gesagt, dass Menschen aus dem Westen so viel Umschwung wie wir hier nie im Leben verkraftet hätten. Gute IM wären viele von ihnen sicher geworden. Von Max Kommerell las ich zuerst „Schiller als Gestalter des handelnden Menschen“, dann “Schiller als Psychologe“ und schließlich eine lange „Betrachtung über Heinrich von Kleist“.

25. Juli 2019

Nun will ich es mal so sagen: Wenn du dir vornimmst, an einem Mittwoch nach Oberhof zu fahren, weil du seit schätzungsweise dreihundert Jahren nicht mehr in Oberhof warst, dann tu es. 1983/84 feierten wir Silvester mit Uwe und Tina in Oberhof, dann waren wir von Fehrenbach aus noch mal da, auch da war es das gemeinsame Silvester mit Uwe und Tina, das wir nie vergessen wegen des unschlagbaren Spruches „Frühs wird nicht geraucht.“ Gestern also alles ohne Uwe und Tina: der Rennsteiggarten ist auch nach dem Verblühen fast aller Blüten schön. Toll aber und das ist dann  schon fast alles, was von Oberhof zu sagen wäre: das Exotarium. Wir schauten einer Amurnatter zu, wie sie drei lebende Mäuse verspeiste. Amurnattern waren im einzigen Zoohandel der DDR zu haben, weil sie aus der Sowjetunion kamen. Max Kommerell war in der DDR nicht zu haben, er starb am 25. Juli 1944, 42-jährig. 1930 schmachtete ihn Claus Graf Schenck von Stauffenberg an.

24. Juli 2019

Großes Nachrufe-Ausdrucken. Brigitte Kronauer ruft die Feuilleton-Chefs auf den Plan respektive die Alpha-Nachrufer. Bei der Gelegenheit die Nachricht, die es nicht bis in die Tagesschau schaffte: Peter Hamm ist tot. Gar nicht weit von Brigitte Kronauers vier Büchern über der Tür stehen bei mir Peter Hamms Bücher, auch vier, alle aus der „Edition Akzente Hanser“. Sie tragen diese Titel: „Der Wille zur Ohnmacht“, „Aus der Gegengeschichte“, „Die Kunst des Unmöglichen oder Jedes Ding hat (mindestens) drei Seiten“ und schließlich „Pessoas Traum“. Auf diesen schwierigen Portugiesen ist Hamm immer wieder zurückgekommen. Meine Hamm-Affinität ist auch damit begründet, dass wir gemeinsam Geburtstag haben: ich denke, wenn ich ihn sonst auch übers Jahr vergessen haben sollte, spätestens am 27. Februar an ihn. Das wird sich nicht ändern, nur dass er nun nicht mehr feiern kann. Auch für ihn gibt es sehr feine, sehr kundige Nachrufe. Nun aber Schluss mit Sterben.


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