Tagebuch

31. März 2024

Das wäre der 74. Hochzeitstag meiner Eltern gewesen, so lange haben es nicht einmal Helmut und Loki Schmidt geschafft und die haben vom Sandkasten an gemeinsam geraucht. Meine Mutter rauchte nie, mein Vater hörte 1961 auf, nach elf Ehejahren blieben die Gardinen weiß. Ich folgte 1991 nach und sehe noch heute, wie sich das Wasser in der Neubaubadewanne quittengelb färbte, wenn unsere Gardinen zum Einweichen hineingelegt wurden. Bis ins 91. Lebensjahr fragte meine Mutter alljährlich, ob ich wüsste und ich wusste ausdauernd. Hochzeitstage vergessen ist etwas für  Lustspiele. Wir beispielsweise werden am 1. Juni knapp zwei Jahre vor der Goldenen Hochzeit 50 Jahre HmmHmmHmm feiern, das war im Unrechtsstaat und wir schämen uns heute noch, dass wir damals das System nicht genug hassten. Wir feierten 1974 sogar 25 Jahre DDR in Berlin, hörten Manfred Krug auf dem Alexanderplatz und City nicht weit davon, die hießen da noch gar nicht City.

30. März 2024

Aus sechs Ausgaben der „Berliner Zeitung“, immer vom Donnerstag, schnitt ich für mein Archiv drei Beiträge aus, zwei sehr kurze Einspalter, einen langen Einspalter. Ich will nicht kategorisch die Tatsachenbehauptung aufstellen, dass früher alles besser war, da schnitt ich wohl aus einer einzigen Ausgabe vom Donnerstag, als das noch eine Literaturseite, später nur noch eine Bücherseite war, mehr aus, aber so ist das Leben eben. Qualitätsjournalismus, lese ich täglich bis wöchentlich, kostet Geld, und wenn kein Geld da ist, gibt es keinen Qualitätsjournalismus, so einfach ist das. Nur nicht jedem Journalisten ist das bisher klar geworden. Viele glauben immer noch, für Qualitätszeitungen zu arbeiten, was sie nicht tun. Die Würde der Journalistin ist unantastbar, steht in der Charta der vereinten Redaktionen oder war es im Knackstumsentschleunigungsgesetz? Nur Deppen wie ich wollen über Literatur in Zeitungen lesen und ich wandere nachweislich dem Aussterben entgegen.

29. März 2024

Am 8. April wird Christoph Hein 80 Jahre alt. Vermutlich wird ihn das weder auf die Titelseite des Cicero noch des Spiegel bringen. Ich zog gestern vorsorglich einige meiner zahlreichen Hein-Bücher aus dem Regal, griff nach jenem Archivordner, in dem zur knappen Hälfte DDR-Autoren der Jahrgänge 1942 und 1943 sowie zur reichlichen Hälfte Christoph Hein allein versammelt sind. Ich fand meine drei 1989 veröffentlichen Artikel zu ihm sorgsam aufgeklebt, für den dritten waren seinerzeit zwei Fassungen nötig, denn die erste wollte die Redakteurin partout nicht nehmen. Am „Tangospieler“ würgte die offizielle DDR 1989 noch heftig. „Christoph Hein 1989“ wäre ein nettes Thema, zu dem mir Zeit fehlen wird. Immerhin: Mein Archivbestand kann locker eine vollwertige Dissertation fundieren. Heute ist Karfreitag. Vor 30 Jahren war einfach Dienstag und wir erlebten die Amalfi-Küste völlig begeistert. In Ravello sahen wir Richard Wagners Domizil mit Andacht.

28. März 2024

Eugène Ionesco ist auf alle Fälle am 28. März 1994 gestorben, an einem 26. November auf alle Fälle geboren. Ob 1909 oder 1912, wie es diverse Lexika behaupten, können wir dem Suchdienst für rumänische Geburtsurkunden überlassen. Es sitzt seit langem tot in der Schublade für absurdes Theater, die leider nicht mehr oft aufgezogen wird. Dabei wäre das eine oder andere Stück von damals eine Belebung für jedes Theater, die alten Fans sind längst gestorben oder dement, man könnte es machen wie mit Schlaghosen oder Angela-Davis-Frisuren: raus aus der Mottenkiste und es Retro nennen. Vor 30 Jahren mussten wir die Banca Popolare die Napoli aufsuchen, weil Hotel und örtliches Reisebüro für Ausflüge keine Visa Card akzeptieren wollten und ich hatte sogar eine schottische. In Forio ein Mittagessen mit Meerblick, erster Gang nach St. Angelo, wo vermutlich die Kitschpostkarte erfunden wurde. Dem wirklichen Leben traut man dergleichen so niemals zu.

27. März 2024

Unser aller Ralf, siehe gestern, hatte vor 30 Jahren, als er 31 Jahre alt wurde, die Freundlichkeit, uns nach Erfurt zu fahren, wo wir zu viert einen Bus bestiegen, den wir heute vor 30 Jahren in Pozzuoli im Golf von Neapel verließen. Nach langer, langer Fahrt ohne Zwischenübernachtung. So fuhr man damals noch und wir bestiegen die Fähre, während unser Gepäck am Ufer zurückblieb. Ich schaute, lese ich in alten nachträglichen Notizen, besorgt durch mein ein Fernrohr ersetzendes Teleobjektiv immer wieder dorthin. Die Koffer standen und sie kamen, wenn auch lange nach uns, tatsächlich an unserem Hotel „La Ginestra“ an. Wir bezogen die Zimmer 86 und 88, wanderten sehr neugierig und noch fast ahnungslos zur Sorceto-Bucht, wo wir Mutige im Meer baden sahen, nahe der heißen Quellen freilich. Unsere erste von drei Ischia-Reisen war zugleich unsere vierte Italien-Reise, ich hatte mich nach dem Infarkt Ende Oktober eigens gesund schreiben lassen: wegen des Gewissens.

26. März 2024

Dass unser aller Ralf heute genau 61 Jahre alt wird, setzen wir voraus und gratulieren ihm. 14 Jahre älter ist Patrick Süskind, Sohn von Wilhelm Emanuel Süskind, Verfasser des Romans „Das Parfum“ und des Einakters „Der Kontrabaß“, unter anderem, aber vor allem. „Das Parfum“ las ich einmal begeistert, den Film „Das Parfum“ sah ich zweimal, leicht weniger begeistert, „Der Kontrabaß“ sah ich in Coburg im Theater, schwer beeindruckt. Am 26. März 1980 starb Roland Barthes, den am 25. Februar ein Milchlaster überfahren hatte, was ich bis gestern auch nicht wusste. Vier Wochen lang sterben, ich mag es mir nicht ausmalen. Läge er auf einem der großen Pariser Friedhöfe, hätte ich sehr wahrscheinlich an seinem Grab gestanden, denn ich suchte seinerzeit nicht nur Heinrich Heine und Jim Morrison auf. Er liegt aber in Urt im französischen Baskenland, wohin es mich vermutlich nie verschlagen wird, obwohl ich mit dem Bus schon einmal in der Gegend war, September 2004.

25. März 2024

Eigentlich wollte ich in den Schriften zum Theater von Roland Barthes nur etwas nachlesen. Dabei entdeckte ich, dass acht meiner neun Barthes-Bücher noch nicht meinen Stempel trugen, nur eines ist markiert: „Der Eiffelturm“. Und da ich bisweilen Kassenzettel als Lesezeichen im Buch lasse, sehe ich: Dieses Büchlein kaufte ich am 25. März 2022 in Berlin in meiner Lieblingsbuchhandlung in der Kantstraße. Am 25. März 1954 starb in Gadderbaum, Kreis Bielefeld, Gertrud Bäumer. Sie war, unter anderem, 1920 die erste Frau in Deutschland, die Ministerialrat im Reichsministerium des Inneren wurde. Was mich auf sie bringt, ist ein Büchlein mit dem Titel „Goethe – überzeitlich“, 92 Seiten stark, im Goethejahr 1932 erschienen. Arthur Eloesser wies am 15. Januar 1933 in seinem dritten und letzten Überblick über die Fluten neuer Goethe-Literatur in der „Vossischen Zeitung“ kurz auch auf Gertrud Bäumer hin. Mein Exemplar liegt bestens erhalten oben auf dem Wartestapel.

24. März 2024

Alle mir zur Verfügung stehenden Lexika nennen den 24. März 1954 als Todestag für Ferdinand Hardekopf, er starb im Burghölzli bei Zürich, drogensüchtig, wie es heißt. Wer Bücher von ihm sucht in den Antiquariatsnetzwerken, darf lange im Glauben bleiben, Hardekopf habe gar keine eigenen Bücher geschrieben, nur fremde übersetzt, vor allem aus dem Französischen. Dann aber, bei den hochpreisigen Angeboten, kommt er doch selbst. In der Reihe „Der jüngste Tag“ etwa, die Schweizer Antiquariate schlagen jeweils noch furchterregende Versandkosten auf. Wikipedia wagt als einzige Quelle einen Alternativ-Vorschlag, sie lässt Hardekopf zwei Tage länger leben. 1907 trat Hardekopf dem Autorenkreis von Siegfried Jacobsohns „Die Schaubühne“ bei und schrieb, was sonst, Theaterkritiken, die sogar als Buch gesammelt wurden sehr viel später. Das Buch aber ist in unbekannte Gegenden entschwunden. In der „Schaubühne“ kann ich jederzeit blätternd nachlesen.

23. März 2024

Deutschland kann noch Fußball und das auswärts und gegen einen großen Gegner. Ich habe den Tag damit zugebracht, völlig ungeplant einen Beitrag zu Armin Stolper zu schreiben, der heute 90 Jahre alt geworden wäre und auf der Inventarliste der DDR stand. Er starb am 17. Dezember 2020, von einigen bemerkt, von vielen längst vergessen. „Jeder Fuchs lobt seinen Schwanz“, „Narrenspiel will Raum“ oder „Poesie trägt einen weiten Mantel“ hießen Bücher von ihm, die ich mir einst, als noch mit Aluminium bezahlt wurde, kaufte. 70 Jahre ist heute Gabriele Eckart, von der ich mir einst, auch noch gegen Aluminium, „Der Seidelstein“, „Per Anhalter“, „Poesiealbum 80“ kaufte, später um etliche Bände ergänzte gegen konvertierbare Währung, wie das in der DDR hieß. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, bis ich endlich auch über sie schreibe, bisher erscheint sie nur hie und da in meinem Tagebuch. So hieß ihr erster richtiger Gedichtband 1978, zweite Auflage 1982.

22. März 2024

Aufatmen und Entwarnung, vermutlich gilt der dumme alte Spruch: nichts ist schwerer zu ertragen als eine Folge von guten Tagen. Nachdem ich gestern Ingwertee brühte, holte ich heute eine Elektrolyt-Glucose-Mischung in Pulverform aus der Apotheke. Mein Schutz für PC und Netzwerk ist wieder vollständig, die Dame am Support-Telefon war gut zu verstehen und hilfreich und ich weiß nun auch, warum die Verlängerung fehlschlug: entsprechende Mails werde ich keine mehr bekommen. Aus dem Bestand meiner alten Buch-Projekte heute ein Goethe-Shakespeare-Opus aus dem Jahr 2014. Die Sammelstücke aus Sachsen sind archiviert, die nächste Reise gibt es erst Mitte Mai. Ich werde ein Vorwort schreiben zu einem Aphorismen-Buch, womit ich für mich Neuland betrete. Obwohl ich seit ewigen Zeiten Sätze sammle, die ihrem Zusammenhang entnommen gut als Aphorismen durchgehen könnten und selbst Derartiges verfasste: mit Bleistift handgeschrieben.

21. März 2024

Nachtrag: Dreieinhalb Stunden dauert die Heimfahrt, eine Abfahrt nach Dresden ist gesperrt, ein Umweg über die Gegenrichtung nicht sehr lang. Unterwegs immer mal Regen, in Thüringen gar sehr heftig, aber nicht andauernd. Zu Hause ein wenig Hektik. Kleiner Postberg. Ich sortiere die neuen Weine aus Österreich gleich ein. Beide Scheibenwischer sind nicht gut über den Winter gekommen. Am Morgen noch in „Schrappel“ gelesen von Gabriele Eckart, sie hat übermorgen ihren Geburtstag und ich weiß natürlich nicht, wo sie feiert, zu Hause in Amerika oder im Vogtland, und nicht einmal, ob es gut wäre, ihr zu dieser 70 zu gratulieren. Denn ich war es, der sich nach dem Abschied in den Urlaub nicht mehr meldete. Ich stehe bei mir selbst in der Schuld, nicht das alles über sie geschrieben zu haben, was ich nach ausführlichen Vorbereitungen schreiben wollte. Und nun muss ich erst einmal für die Verlängerung meines Virenschutzes sorgen, vorher geht gar nichts.

20. März 2024

Nachtrag: Wir sind zu zeitig an unserem Hotel in Herrnhut, müssen aber trotzdem nicht sehr lange warten. Die Zimmer haben keine Nummern, sondern Namen. Sie heißen also Oybin-Zimmer, Zittau-Zimmer oder eben Herrnhut-Zimmer wie unseres. Nach Großhennersdorf ist es nicht weit, wir werden erwartet und sitzen bei Kaffee und Kuchen im Allerheiligsten, dem Arbeitszimmer. Ich überreiche meine beiden studentischen Arbeiten aus den Jahren 1978 und 1979, Durchschläge auf DDR-Durchschlagpapier, die nun Archivgut werden und eingescannt. In Herrnhut schauen wir uns Ort und Heimatmuseum an, unser Smartphone begrüßt uns mehrfach in Polen, was die Frau im Museum kennt. Polen ist wohl nahe, aber wir sind nicht in Polen. Vor dem Essen noch ein Gang in die nahe Natur, Vogelstimmen-Konzert. Zum Essen ein Wein von der Nahe zu einem Preis, der in 102 Prozent aller Gasthäuser als Schreibfehler gelesen würde. Ein sehr guter Wein. Gute Gegend.


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