Tagebuch
7. August 2024
Am 7. August 2004 saßen wir abends auf dem Balkon und genossen Wein plus Aussicht. Das mit dem Wein klappt, wenn das Wetter mitspielt, immer noch sehr gut. Das mit der Aussicht dagegen verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Die einstige Ersatzpflanzung der Stadt für einen vollkommen zufällig umgehauenen Baum wuchert und wuchert. Früher sah ich Oehrenstock, sah den Langen Berg, konnte mir einbilden, sogar das Denkmal dort oben zu erkennen. Jetzt sehe ich Blätter und nichts als Blätter, selbst die Tankstelle ist unsichtbar von meinem Arbeitszimmer aus. Der Tag rückt näher, da wir dauernd Licht anschalten müssen, weil es zu dunkel wird in unseren Zimmern zur Stadt. Ich lese weiter in „Herztöne und Zimmermannssplitter“ von Heinz Knobloch, bin jetzt bei seinem Beitrag zum Bitterfelder Weg angelangt, der ihn in die Rostocker Neptun-Werft führte. Das Nachwort schrieb Reiner Kunze, von dem alte Ost-Sachen längst antiquarische Raritäten wurden.
6. August 2024
Drei Namen heute: Günter Caspar, Harald Hauser und Heinz Drewniok. Hauser starb vor 30 Jahren, seine dramatische Erzählung „Im himmlischen Garten“ muss ich ungelesen wieder in den Keller tragen zu den alten Heften der NDL, die da brav darauf warten, ab und zu aus der buchstäblichen Versenkung geholt zu werden. Im Heft 3/1958, der Zufall will es, finden sich auch Günter Caspars „Gedenkblätter für Max Schroeder“, von denen ich gestern unter anderem für heute kurz schrieb. Vor 100 Jahren saß Hans Fallada in Greifswald eine dreimonatige Gefängnisstrafe ab. Über den 6. August 1924 schrieb er, mit sich selbst leicht unzufrieden, erst einen Tag später, dafür aber gleich mehr. Er hatte von Zelle 32 in die 33 wechseln müssen, weil seine ursprüngliche geweißt wurde. Wanzen gab es in beiden Zellen. Zu Heinz Drewniok schrieb ich am 9. März 1988 eine ganze Seite mit meiner mechanischen Schreibmaschine voll. Heute las ich sein „Die Sau“, 1985 uraufgeführt.
5. August 2024
Arzttermin am Morgen, wir mussten zeitiger frühstücken, saßen aber trotzdem lange im Warteraum. Als wir gegen 11 Uhr wieder zu Hause waren, setzte ich mich kurz entschlossen an einen kleinen Text zu Günter Caspar, dessen 100. Geburtstag morgen ist. Er war zu DDR-Zeiten und noch danach der große Fallada-Herausgeber, aus seinen Nachworten hat er ein Buch gemacht, das ich nicht besitze, dafür aber die Biografien von Werner Liersch, Tom Crepon und Alfred Gessler. Den klar schlechtesten Ruf hat seit vielen Jahren Crepon, der jene berühmte Nebentätigkeit zum Schaden anderer ausübte, darunter Brigitte Reimann bespitzelte und eben Liersch behinderte. Ich habe mich damit nie näher befasst, es kommt mir nur unter bei passender und unpassender Gelegenheit. In der Apotheke zum wiederholten Male alle Medikamente vorhanden, ich trug sie nach großer Runde nach Hause, die 10.000 Schritte auch heute zu erreichen. Abends Stabhochsprung schwedisch.
4. August 2024
Mit Joachim Ritters Sohn Henning Ritter hatte ich vor Jahren einen kleinen Mailwechsel. Erst als ich kürzlich mit Ernst Cassirer befasst war, kam mir der Name von Ritter wieder vor die Augen, der promovierte bei Cassirer und war auch sein Assistent. Alles, was ich zu Joseph Conrad aus Regalen und Ordnern geholt hatte, wanderte heute wieder zurück. „Der Mensch wird geboren, um seine Zeit auf dieser Erde zu dienen, und dieser Dienst wird durch die Arbeit geadelt, die nicht des Nutzens wegen getan wird.“ So Conrad in „Der Spiegel der See“. Den lasse ich in Griffweite. In einem Buch von Bernhard Fehr, „Von Englands geistigen Beständen“ aus dem Jahr 1944, fand ich noch einen kleinen Beitrag zu Conrad, den ich sicher gelesen hätte, wäre er mir eher in die Hände gefallen, aber das Buch liegt quer bei mir an einer schwer zugänglichen Stelle. Nachts unsäglicher Lärm von einigen Idioten in einem roten Auto, die minutenlang hupten, wen auch immer sie ärgern wollten.
3. August 2024
Mit „Vor 100 Jahren starb Joseph Conrad“ bin ich fertig geworden, las noch in meinen Archivalien, auch in „Der Spiegel der See“, wo Conrad über Seiten hin sich mit dem Anker auf Schiffen befasst und zeigt, dass es keine dümmere Formulierung gibt für das , was tatsächlich geschieht, als die vom „Anker werfen“. Nun gut, früher las ich bei allen Seeräuber-Romanen immer hinten das Glossar, um stets zu wissen, wovon gerade die Rede war, bei den Segelschiffen war es schlimmer als bei den Dampfschiffen, letzthin hat es wenig genützt, mit Luv und Lee bin ich schon hart an der Grenze zur Überforderung. Vor 40 Jahren starb Wladimir Tendrjakow, dessen 100. Geburtstag mir im vorigen Jahr immerhin dreifach wichtig war: zwei alte Sachen dabei, die ich neu ins Netz stellte. Zehn Jahre vor Tendrjakow starb Joachim Ritter. Das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ ist für mich für immer mit seinem Namen verbunden, das dortige Stichwort „Fortschritt“ half mir für mein Diplom.
2. August 2024
Bis zum späten Vormittag ist es so dunkel in der Wohnung wie im Winter. Aus Trotz lassen wir alle Lichter aus, es ist eben unsere neue Art von Sommer. Dem heutigen 100. Geburtstag von James Baldwin will ich nicht ausweichen. Als ich vor zehn Jahren „James Baldwin 90“ schrieb, konnte ich noch über einen dürftigen Archivbestand klagen, dann aber kam die natürlich aus den USA zu uns herüberschwappende neue Aufmerksamkeit und jetzt ist das Archiv bestens bestückt. 2017 schrieb ich über „Blues für Mr. Charlie“, es wurde mehr, als ich damals wollte. Seit den überflüssigen Neu-Übersetzungen von Dostojewski, die aus „Der Jüngling“ zum Beispiel „Ein grüner Junge“ machten, bin ich immer hellhörig, wenn mir dergleichen angepriesen wird. Bei Baldwin wird in solchen Fällen aus Subway Untergrundbahn oder umgekehrt. Inzwischen denken längst Leute ans Essen bei Subway und nicht an Untergründe mit Gleisen. Im Briefkasten Bodo Ramelows Wahlwerbung.
1. August 2024
Post von der Staatsanwaltschaft Erfurt: das Verfahren gegen Adnan und Zijada P. wegen versuchten Betrugs wurde eingestellt. Ich musste kurz grübeln, was ich mit diesem Verfahren zu tun habe, es fiel mir aber ein. Betrüger, denen der Betrug nun leider nicht gerichtsfest nachzuweisen war, haben versucht, von mir Reisekosten für eine Urlaubsreise genannter Personen zu ergaunern, indem sie den Anschein erweckten, ich hätte die Reise storniert, sie aber trotzdem zu bezahlen. Nur über eine Anzeige kam ich 2022 aus der Sache heraus ohne Schaden, jetzt wäre für die Staatsanwaltschaft der Aufwand zu hoch über Amtshilfe und Auslandsermittlung gegen die Ganoven, was ich verstehe. Es ist mein drittes eingestelltes Verfahren als Opfer einer Straftat, nur in einem der Fälle kenne ich die beiden Täter. Beiden Arschlöchern geht es den Umständen entsprechend sehr gut. Tot ist heute seit 140 Jahren der große Theatermann und Autor Heinrich Laube, einst auch ein Burgtheaterdirektor.
31. Juli 2024
Das schmale gelbe Stramm-Bändchen, das ich schon in Marienbad mit mir führte, las ich endlich zu Ende. Die neue Rente ist auf dem Konto, beide Hauptfeinde jeder Rentenerhöhung, das Finanzamt und die Inflationsrate, beginnen sofort ihr zerstörerisches Werk. Immerhin, die Bescheide waren rechtzeitig da, das große Begleichen offener Rechnungen kann morgen beginnen, heute noch nicht. Heute verprassen wird einen unserer Gutscheine im Peltobad. An der Stelle, zu der wir sonst immer unsere Liegen zerrten, steht nun ein neuer Ruheraum. Es war angenehm ruhiger Betrieb, mitten in der Woche müssen eben immer noch erstaunlich viele Menschen arbeiten, nicht sämtliche Rentner wollen in die Sauna. Seit Sportler nicht in erster Linie mehr Medaillen gewinnen wollen, sondern Spaß haben, gewinnen nur noch die Humorbremsen anderer Länder die Medaillen, wir erfahren von Experten und Betroffenen, woran es lag. An Antoine de Saint-Exupery nicht, er starb vor 80 Jahren.
30. Juli 2024
Was hören öffentlich-rechtliche Sportreporter nebst -innen in ihrer allwöchentlichen Kabinen-Ansprache? Quatscht, bis Euch Fransen am Maul hängen? Denkt, Ihr seid Rundfunkreporter und Eure Hörer sind blöd wie Sesambrot? Ich gestehe, dass ich beim Anschauen des Beach-Volleyball-Matches fast wahnsinnig wurde, als der männliche Labersack mir mitteilte, wie toll die Stimmung unter den Zuschauern sei, statt mir die Möglichkeit zu geben, das auch zu hören. Er quatschte und quatschte und quatschte, jeden Spielzug der neuen Partnerin von Laura Ludwig kommentierte er, als stünde da eine geborene Vollidiotin im Sand, die einfach nicht weiß, was sie tun muss. Mit „Arthur Eloesser: August Stramm“ bin ich doch noch fertig geworden, was mir etwas Luft verschafft. Ich las ein paar Seiten Joseph Conrad und holte die Wahlbenachrichtigungen aus dem Briefkasten. Für uns ist die Briefwahl angesagt, denn wir werden außer Landes sein, wenn die Entscheidung fällt.
29. Juli 2024
Die Aussicht auf drei schöne Tage beflügelt mein Treiben. Heute ist Erich Kästners zu gedenken, der vor 50 Jahren dahinschied, dazu steht der 150. Geburtstag von Dr. August Stramm im Kalender, der vor Jahren schon einmal meine schreibende Aufmerksamkeit herausgefordert hat und nun wieder einmal an der Reihe wäre. Tot ist er schon ewig, er endete an Kopfschuss. In der Apotheke, wo ich immer eine Packung Taschentücher geschenkt bekomme, wenn ich Zuzahlungen oder ganz gewöhnliche Zahlungen ohne Zu- tätige, hörte ich von magenfreundlichen Tabletten, die volle drei Euro billiger sind als meine, mit denen ich seit fast 31 Jahren mein Blut verdünne, damit es nicht stockt urplötzlich und ich ohne Kopfschuss tot bin. Mal sehen, wie lange es vorhält, wobei ich es selbst ja dann nicht sehen werde. Renate Feyl, die morgen 80 Jahre alt wird, was meiner Kollegin von 1973 erst nächstes Jahr bevorsteht, wird leider ohne meine Gratulation auskommen müssen.
28. Juli 2024
Als die Grünen noch Westdeutschland feucht weinten ob des Waldsterbens, starb der Wald gar nicht. Mein erster Besuch im Ruhrgebiet, das ich mir wie Dantes Staub-Inferno ohne Blatt am Baum und mit asthmatisch hustenden menschenähnlichen Kreaturen vorstellte, rupfte mein heiles Weltbild zu Boden. Alles war grün und glänzend, die Leute sahen aus, als wären sie frisch von vier Wochen Kur zurückgekehrt. Heute besuchte ich im Kreise der Familie Masserberg, wo ich eine ehemalige Kollegin an Krücken sah, den Gatten dazu, der sie besuchte. Ach, das war 1973 und in einem anderen Land. Heute stirbt der Wald, rechts und links der Straße ist er entweder schon tot und weggesägt oder er harrt noch der Dinge, die kurz vor dem Tod liegen. Die Grünen achten jetzt auf meine Ess- und Sprechgewohnheiten, mit toten Dingen wollen sie nichts zu tun haben. Vor unserer Abfahrt wurde ich noch fertig mit „Ernst Cassirer 150“, ich nenne dergleichen Sonntagsfreuden.
27. Juli 2024
Mein einstiges Blatt hatte zum 1. Juli die glorreiche Idee, die Lokalteile Ilmenau und Zella-Mehlis zu fusionieren mit dem praktischen Ergebnis, dass kaum noch etwas von Interesse ist für hiesige Leser, die sofort mit Abbestellungsabsichten reagierten. Nun teilt der Chefredakteur höchstselbst mit, dass die Idee eine Schnapsidee war. Er hätte jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt, aber von der Sorte ist wohl niemand mehr im Blatt. Zum 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, soll der vorherige Zustand wieder hergestellt werden: die Lokalteil-Mauer wird hochgezogen, weil sie in die Köpfen fortexistiert. Aus meiner Zeit als verantwortlicher Redakteur der Lokalteile Ilmenau und Arnstadt weiß ich, dass meine damalige Maximal-Lokalisierung die beste Zeit war, die Leser wussten genau, wann ihre Seite im Blatt war und mussten nicht einmal mehr Arnstadt, einmal mehr Oberhof ertragen. Vor 200 Jahren wurde Dumas fils, der jüngere Alexandre Dumas geboren.