Tagebuch
26. Juli 2024
Für den Fall, dass mir eine unsichere Zukunft zu unsicher ist, gibt es neuerdings eine orangefarben werbende Familien-Partei. Die Plakate hängen massig an den Laternenmasten, keine Namen dazu, Programm ohnehin nicht. Früher hing immer die MLPD zuerst da, jetzt müssen die das Rennen verschlafen haben. Für den wahren Sozialismus bleibt letztlich immer genug Zeit. Noch eben rechtzeitig dachten wir an die Kalender für 2025, je früher ich sie habe, um so langfristiger kann ich meine Schreibplanung vorbereiten, je eher ich die Jahrestage vor Augen habe, je früher kann ich die Lektüren ins Augen fassen, die nötig werden. Auch Aldous Huxley stand für heute frühzeitig auf dem Karton, ich übergehe ihn dennoch. Der Juli ist einfach zu voll. In Paris regnet es zur Eröffnung der Olympiade gotterbärmlich. Ich denke an die 700-Jahr-Feier von Ilmenau. Dennoch: Spektakel erster Klasse, viele wunderbare Ideen wie etwa die von unten auftauchenden Frauenplastiken.
25. Juli 2024
Jahraus, jahrein bin ich in Unterpörlitz an diesem Zaun vorbeigelaufen, sah das grüne Postrohr aus uralten Zeiten dort hängen, das gab es für neue Abonnenten 1990 kostenlos dazu und wurde vom Nachfolgeblatt einfach übernommen. Lange warb es für meine Zeitung, die es nicht mehr gab, der Name wurde überklebt und nun ist es verschwunden. Wann genau, weiß ich gar nicht, es ist nicht mehr da. Vermutlich lesen die Leute keine Zeitung mehr, vielleicht haben auch Leute das Haus übernommen, die nie eine Zeitung lasen. Vielleicht, vielleicht. Ich denke mir, dass ich das Wort Postrohr nie kennengelernt hätte, wenn diese DDR nicht einfach zusammengekracht wäre in einer Mittagspause der Weltgeschichte. Dann wäre allerdings auch Helmut Kohl nie Kanzler der Einheit geworden, man hätte ihn abgewählt angesichts des Fettnapf-Slaloms, den er seit seiner Wende lief. Postrohr, Postrohr. Vielleicht bist du auch nur an Materialermüdung, Hitze, Regen, Frost gestorben.
24. Juli 2024
Die tschechischen Bieretiketten leisten teilweise hartnäckigsten Widerstand, sind selbst mit der Rasierklinge kaum von der Flasche zu trennen. Diesmal brachte ich nur 250 Kronen mit nach Hause zurück. Wir haben uns entschlossen, im kommenden Jahr nicht in Franzensbad Quartier zu nehmen, wie zunächst gedacht, sondern wieder in unserem Hotel in Marienbad und dann von dort aus gen Franzensbad mit dem Auto zu fahren. Wirklich neugierig sind wir nur noch auf den Kammerbühl, den wir wie weiland Goethe besteigen wollen, das hätten wir Ende November vorigen Jahres in Schnee und Kälte nicht sinnvoll machen können. Ich bin mit dem Nacharbeiten des Urlaubs fast fertig, sehe, dass wir doch schon bei Tesco waren, was natürlich völlig irrelevant ist. Mein Kalender nennt mir für heute den 160. Geburtstag von Frank Wedekind, den muss ich beiseite lassen wie so vieles in diesem wilden Monat Juli. Immerhin stehen schon 12mal die 10.000 Schritte zu Buche.
23. Juli 2024
Der Besuch im Ilmenau O2-Laden ist kaum hilfreicher als der in Marienbad. Der Mann meint nur, die SD-Karte müsse beschädigt sein, sie müsse neu formatiert werden, dann aber seien alle Bilder weg. So fahren wir zu unserem Computer-Experten, der uns immerhin Hoffnung macht, die Dateien retten zu können, es könne sein, dass ihre Ordnung allerdings verloren ist. Das würde bedeuten, dass ich mir auf einer neuen SD-Karte Hunderte und Aberhunderte von Fotos neu anschauen müsste, um sie wieder in Alben sortieren zu können. Ich komme mit meinem Text zum heutigen 90. Geburtstag von Renate Krüger tatsächlich zu Ende. Rufe mir spät noch Gottfried Stiehler vor Augen, bei dem ich in Berlin die Vorlesungen Historischer Materialismus hörte: „Philosoph, hüte dich vor Hypostasierung!“ war sein Spruch. 100 Jahre alt wäre er heute, geboren in Langebrück, von wo wir eben erst gen Marienbad gestartet waren. Er starb am 3. Dezember 2007, 83 Jahre alt.
22. Juli 2024
Die leeren Weinflaschen warf ich gestern in einen Glascontainer auf dem Weg nach Tepla, alles andere blieb heute im Bad. Wir loben noch einmal die gute Ausstattung des Zimmers. Die vielen Russen in Marienbad kommen nicht aus Russland, erfahre ich, sie kommen aus Deutschland und aus Israel. Sie packen ein, wenn sie den Tisch verlassen, ein Paar am Nebentisch vier Pfirsiche, sogar trockenes Brot. Sie packen ihre Teller bergehoch voll und lassen zwei Drittel dann einfach liegen. Nicht alle natürlich. Wann verlor dieses Volk alle Kultur, falls es jemals welche hatte? 70 Jahre Sowjetunion haben offenbar nicht das mindeste Benehmen erzogen, 30 Jahre danach nichts hinzugefügt. 6.20 Uhr weckt mich der Baulärm vom Gerüst vor unseren beiden Fenstern, 13.30 Uhr entladen wir zu Hause unseren Kofferraum, fuhren diesmal mit e-Vignette für alle Fälle, nachdem wir endlich das System verstanden hatten, das ganz einfach ist. Ein paar Stramm-Gedichte noch.
21. Juli 2024
Haarscharf verpassen wir im Prämontratenserkloster Tepla die Führung, müssen uns gedulden bis 13.30 Uhr. Wir vertreiben uns die Zeit, indem wir um den kleinen See laufen, den Friedhof suchen, der ausgeschildert ist und offenbar aus nur drei Gräbern besteht. Ein Goethe-Relief hängt an einer Wand, Goethe trägt eine flotte Sturmfrisur, es erinnert an seinen Besuch am 21. August 1821. Wir folgen der Führung in tschechischer Sprache, haben aber ein deutsches Textbuch zur Hand, außer uns ist noch ein jüngerer Mann so ausgerüstet. Im Kloster darf man nicht fotografieren, was wenig Sinn macht. Dafür erbrachte der Rundgang Bilder von Kreuzweg-Plastiken, wie wir sie ähnlich nirgends sagen. Wir tanken in Tepla mehr als zehn Euro billiger als zu Hause. Weil wir zweimal in Folge sauisch hinterlassene Tische russischsprechender Hotelgäste sahen, die das Personal völlig verunsicherten, will ich morgen beim Aus-Checken nachfragen, was das für seltsame Gäste sind.
20. Juli 2024
Der Besuch im Marienbader O2-Laden, zu dem wir laufen, obwohl er weiter weg ist, als wir dachten, verläuft erfolglos. Der junge Mann versteht zwar unser Anliegen, erklärt sich aber für nicht kompetent. Wir fahren mit der Seilbahn zum Seniorentarif zum Boheminium, die zahlreichen Fotos von den Miniaturen bleiben ebenso in der Kamera wie die gestrigen aus Königswart, mein Zugriff auf die SD-Karte bleibt weg, ich sehe nicht einmal mehr meine so sorgsam angelegten Alben und kann ebenso nicht mehr nach den alten Bildern schauen. Am Brunnen sind wir zweimal: um 15 Uhr gibt es Chopin, um 21 Uhr erneut Metallica, diesmal mit Lichtshow. Nachdem ich gestern „Das Zeitalter der Empfindsamkeit“ zu Ende las, fast 13 Jahre lag es mit Lesezeichen auf Seite 91, war heute „Aufbruch unter Diktaturen“ an der Reihe, nun bleibt mir noch August Stramm. Den 90. Geburtstag von Uwe Johnson lasse ich verstreichen und werde auch nichts nachträglich schreiben.
19. Juli 2024
Laut Wikipedia ist heute der 650. Todestag von Francesco Petrarca, alle meine sonstigen Quellen nennen den 18. Juli 1374. Es sei, wie es ist. Ich besitze von ihm ein Poesiealbum 178, ein Insel-Buch 995, ein Reclambuch 387 und bin damit gut versorgt. Ich könnte die Sonette italienisch lesen, was ich natürlich nicht kann. Im Zimmer ein Anruf von der Rezeption, der sonntägliche Ausflug zum Kloster entfällt mangels Teilnahmewilliger, ich bekomme meine Kronen zurück. Die heutige Tour zum Schloss Königswart findet statt mit 13 Interessenten, die dann alle völlig begeistert sind von den Räumen des Fürsten Metternich. Wir sahen eine Schüssel, in der sich Napoleon auf Elba wusch und andere Wertstücke wie den Tisch, an dem die Dokumente des Wiener Kongresses 1815 unterzeichnet wurden. Mein Versuch, 3 Zehn-Franken-Scheine zu tauschen, scheiterte, der Wechsler wollte erst ab 20er Scheinen mitmachen. Schreck unterwegs: meine SD-Karte wird nicht erkannt.
18. Juli 2024
Heute ist der einzige Tag, da uns der Behandlungsplan zwingt, getrennt zu frühstücken. Sogar mit dem Kaffeeautomaten komme ich zurecht nach vorheriger Schulung: nur in Fernsehkrimis sind die Automaten störrisch und liefern ungenießbare Brühe. Man muss halt nur zwei verschiedene Knöpfe drücken, um die große Tasse anständig zu füllen, Kaffeesahne gibt es extra. Mein Termin fürs Mineralbad wird vorverlegt, was für den Nachmittag mehr Zeit bringt. Wir besuchen den Tesco, den wir bis dato nur aus England kennen, ich erweitere meine Biersammlung. Mit den heutigen vier Anwendungen bin ich 12 Uhr fertig, bleiben drei für morgen und damit ist dann schon wieder alles erledigt. Drei Runden Sauna gönne ich mir, wir sind die einzigen, die sie nutzen, die zweite Sauna für Textil-Schwitzer, die es nur hier zu geben scheint oder wo sonst Tschechen vorkommen, ist außer Betrieb. 2023 nutzten wir sie einmal versehentlich und erregten nichtöffentliches Ärgernis.
17. Juli 2024
Zehn Jahre ist es heute her, da ich „Rainer Kirsch: Kopie nach Original“ ins Netz stellte, damals war der 80. Geburtstag der Anlass. Jetzt bin ich ohne ihn in einem anderen Land, lese statt seiner Renate Krüger, auch Jahrgang 1934. „Nothing else matters“ hören wir heute bereits um 11 Uhr, um 15 Uhr noch die V. Symphonie von Beethoven. Die schaffen wir gerade noch, als wir aus dem Goethemuseum kommen, das ein Stadtmuseum ist. 2023 war es geschlossen, wir konnten uns nur die „Marienbader Elegie“ anhören: vor der Tür auf einer Bank sitzend. Hier gibt es immer nette Rabatte für Senioren. Auf dem Weg zum Hotel zwei einzelne Oblaten, das Geschäft hat offenbar keine Schließzeiten. Das Goethemuseum ist alles andere als überlaufen, außer uns zwei Paare, die aber vor allem die tschechischen Exponate beschauten. Ein halbwegs authentisches Gefühl nur in dem sehr kleinen Raum, in dem 1823 Goethes Diener Johann August Friedrich John übernachtete.
16. Juli 2024
Während einer Ratssitzung am 16. Juli 1664 starb der deutsche Dichter Andreas Gryphius. Wäre er ein Schauspieler gewesen, wäre er auf seiner Bühne gestorben. Schon um 8 Uhr muss ich heute bei der Ärztin vorsprechen, den Behandlungsplan stellt sie nach meinen Symptomen auf, die bisweilen durchaus heftig sind. 14 Anwendungen werden mir verordnet, müsste ich sie alle selbst bezahlen, würden 7670 Kronen fällig, was dem Kurs entsprechend 302,17 Euro wären. Es würde mich nicht umbringen, im Paket ist es inbegriffen. Um 13 Uhr hören wir am singenden Springbrunnen die Nummer E: „Nothing else matters“ von Metallica. Es gibt einen Plan, was wann gespielt wird, es gibt einen Run auf die Sitzplätze in Brunnennähe. Drei Saunagänge und Schwimmbad schließen sich an, es ist angenehm leer. Auffallend viele russisch sprechende Menschen im Haus und auf den Straßen. Einige packen ein nach Frühstück und Abendessen, was andere Hotels nie dulden würden.
15. Juli 2024
Von Dresden nach Marienbad ist es fast identisch weit wie von uns aus, wir fahren halt eine andere Strecke. Wir sind fast auf die Minute 14 Uhr vor unserem Hotel, bekommen Zimmer 222. 2023 war es 224, wir sahen in den Innenhof, jetzt auf die Straße an der Seite mit einem eingerüsteten Haus, hier wird offenbar ein alter Prachtbau saniert. Besuch bei der Schwester, die uns für morgen einen sehr frühen Arzttermin gibt. Einkauf im Kaufland. Dort gibt es einen Riesling von der Sandgrube 13 in Krems, den wir noch nirgends sahen. Das Zimmer hat einen Kühlschrank, für Wein und Bier ideal, es hat sehr gute Gläser. Aus dem Ausflugsprogramm buchen wir Schloss Königswart und Kloster Tepla. Den Geldautomaten im Foyer gibt es nicht mehr, wir müssen zur Bank, die sich aber ganz nahe findet, ich zahle mit Kronen. Und hoffe, meine letzten 30 Schweizer Franken tauschen zu können bei einem der vietnamesischen Geldwechsler. 150. Geburtstag von Wilhelm von Scholz.